Der Gesang der Meerjungfrauen

Das Nest des adlergleichen Vogels triumphiert noch immer auf der Klippe. Morgens und abends, wenn die Sonne steigt und sinkt, flammt weiterhin rot und feurig sein Gefieder, majestätisch – und doch: Er ist wie stumm geworden über die Jahre. Zwar schauen noch ab und zu Wissende zu ihm auf, doch eine Legende mehr als lebend, eine Legende, die mehr und mehr ins Reich der Fabeln zu entschwinden droht. Deutlich mehr wird an anderen Orten bewegt.

Gezwitscher hört man viel zu selten noch, die Musik spielt längst woanders: am großen Meer, wo sich die meisten Fische tummeln, auf Inseln, fernab der Zivilisation, ein Nimmerland, auf dem Piraten verpönt und Peter Pans elfische Erinnerungslosigkeiten alles sind. Dort kann man ihn hören, täglich, den Gesang der pinken oder stahlblauen Meerjungfrauen, die von Gerüchten, Interessen und allerlei Neuigkeiten wispern, also all das, was einst das fabelhafte Flügelwesen von den Zweigen zwitscherte.

Den gurgelnden Ozean, den gab es schon immer. Wandelbar, kaum wiederzuerkennen zwischen den Gezeiten. Es fällt einem alten Mann wie mir schwer, das Meer zu beurteilen, zu sagen was nun besser war und wem die Zukunft gehört. Sicher, es bietet unsägliche Vorteile, so nah am Wasser zu bauen und vor allen Erddämonen sicher zu sein. Dennoch sind auch die seichten Gewässer nicht frei von Risiken. Geben sich doch auch vorwitzige Seeschlangen allzu oft als Wasserjungfern aus und oft ist das Viele, was die Nixen zu berichten haben, tatsächlich nichts, aufgeschäumtes Meersalz.

Nun gut, ein aufgeplustertes Gefieder hatte auch unser Feuervogel viel zu oft. Er ist vielleicht alt geworden, der Asche näher als dem Leben, dennoch seiner Unsterblichkeit verpflichtet, zu sehr in Würde erstarrt, als dass er noch weit fliegen könnte. Doch die Geschichten, die man Kindern erzählt, lehren uns, dass dem Vogel wohl eher zu trauen ist als den Wesen aus den Meerestiefen, die einen allzu gerne dorthin hinabziehen. Andererseits waren es Erwachsene, die diese Geschichten verfassten und der heutigen Jugend, längst zu Amphibienwesen gewandelt, ist das Leben an der frischen Luft oft längst vergällt durch allzu pflichtbewusste Erdenbürger.

Was bliebe, wenn das Ding zu Asche würde? Ich weiß es nicht. Die Hoffnung immerhin auf das Versprechen, das in alten Büchern geschrieben steht und die Erinnerung, ein Reich, aus dem man heute aber auch allzu leicht vertrieben werden kann. Doch das Gesetz des Lebens, um der Jahreszeit Tribut zu bringen, sieht im ewig mythischen Zyklus schwere Gezeiten ebenso vor wie luftigen Frühling und die Gluten des Sommers. Dies hielte ich den Meereswesen entgegen, behaupteten sie, der steigende Spiegel der Tiefen werde schließlich alle Feuer löschen. Den Wesen der Luft nämlich, die fliegen können, ist Meerwasser egal.

Doch der Ozean gurgelt für mich nur in der Ferne und die Sprache der Fische ist mir fremd.

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Martin Dühning, geb. 1975, studierte Germanistik, kath. Theologie und Geschichte in Freiburg im Breisgau, arbeitet am Hochrhein-Gymnasium in Waldshut und ist Gründer, Herausgeber und Chefredakteur von Anastratin.de.