Symphonie des Verlustes: Children who chase lost voices

Selten wurde ein Nicht-Ghibli-Anime im Vorfeld so heiß ersehnt wie Makoto Shinkais neuestes Werk mit dem etwas sperrigen Titel „Children who chase lost voices from deep below“. Nun ist er auf DVD und Blue Ray in deutscher Synchronisation erschienen. Hat sich das Warten gelohnt? Ja, zumindest wenn man ein Fan von Ghibli-Animes ist.

Ghibli-Stil und Shinkai-Atmosphäre: "Children who chase lost voices from deep below" synthetisiert Elemente aus beiden Welten - inhaltlich bleibt sich Shinkai letztlich aber doch treu. (Grafik: Sentai Filmworks)
Ghibli-Stil und Shinkai-Atmosphäre: „Children who chase lost voices from deep below“ synthetisiert Elemente aus beiden Welten – inhaltlich bleibt sich Shinkai letztlich aber doch treu. (Grafik: Sentai Filmworks Werbegrafik)

Die Handlung

Die Story dreht sich um die Grundschülerin Asuna, die als sehr selbstständige Musterschülerin, aber auch Einzelgängerin dargestellt wird. Sie lebt mit ihrer meist beruflich abwesenden Mutter in einem japanischen Dorf der 70ziger Jahre und verbringt ihre freie Zeit größtenteils allein mit einem selbstgebastelten Radio und  ihrer rothaarigen Miniaturkatze Mimi auf einem Felsvorsprung auf dem Berg über dem Dorf. Dort hat sie sich ein geheimes Versteck eingerichtet. Als Warnungen über einen streunenden „Bären“ die Runde machen, ignoriert Asuna diese, muss dann aber vom unbekannten Teenager Shoun vor dem Ungeheuer gerettet werden.

Die kurze und ungeklärte Beziehung zu Shoun endet abrupt, als dieser stirbt. Nun überschlagen sich die Ereignisse. Der neue, geheimnisvolle Lehrer Morisaki übernimmt in der Schule die Klasse und von Shoun taucht ein kleinerer Doppelgänger Namens Shin auf, mit beiden stürzt sich Asuna mehr zufällig als absichtlich ins Abenteuer, die Reise in die mysteriöse Unterwelt Agartha, wohin sich die Götter zurückgezogen haben und angeblich jeder Wunsch erfüllt werden kann – und sei es die Wiederbelebung von Toten.

Ghibli lässt grüßen

Wer Shinkais frühere Werke kennt – z. B. „Voices of a Distant Star“ (2002), „The Place Promised in Our Early Days“ (2004), „5 Centimeters per Second“ (2007), der weiß, dass der Regisseur mit Recht zu den Top Ten des japanischen Zeichentrickgenres zählt. Sein besonderes Talent einerseits für philosophische Themenstellungen, andererseits für atmosphärische Panoramen sucht im aktuellen Anime seinesgleichen. Damit, aber auch durch das eigene Charakterdesign, wagte er bislang einen mutig-individuellen Stil.

Seine früheren „Entwürfe“ scheinen den Regisseur aber nicht ganz zufrieden gestellt zu haben. Mit dem aktuellen Werk wandelt er deutlich auf den großen Spuren von Ghibli bzw. von Starregisseur Hayao Miyazaki. Dies fällt insbesondere beim Charakterdesign auf, aber teilweise auch bei tragenden Storyelementen.

Das Charakterdesign in "Children who chase lost voices from deep below" sieht Ghibli mehr als ähnlich , die Schatturierung in den Wettereffekten bleibt deutlich Shinkai-Stil. (Werbegrafik von der Website zum Film)
Das Charakterdesign in „Children who chase lost voices from deep below“ sieht Ghibli mehr als ähnlich , die Schatturierung in den Wettereffekten bleibt deutlich Shinkai-Stil. (Werbegrafik von der Website zum Film)

„Es sollte ein Film werden, bei dem man einfach zwei Stunden lang dasitzen und die Bilder, Animationen und Musik genießen kann“, äußerte sich Makoto Shinkai bei der Premierenvorstellung gegenüber dem Publikum. Gleichzeitig lag Shinkai die Story besonders am Herzen – sie behandelt ein Thema, das Shinkai in letzter Zeit wieder besonders bewegte. Grundelemente der Handlung um ein unterirdisches Reich mit Namen „Agartha“ entnahm Shinkai nach eigener Aussage dabei dem japanischen Kinderbuch „Lebe wohl, Pyramidenhut“ von Yoshiko Okkotsu, mit dessen Schluss aus zweiter Hand (die Autorin starb vor Fertigstellung) er aber nie einverstanden gewesen war.

Gleichzeitig gewann Shinkai bei seinen Workshops 2007-2009 im Nahen Osten und in London die Überzeugung, seine bisherigen Werke seien für ein internationales Publikum zu speziell japanisch und er wollte ein übergreifend verständliches Werk auf quasi-mythischer Basis schaffen. Daher wählte er die seiner Ansicht nach allgemein verständliche Agartha-Motivik. (Tatsächlich ist der angebliche Agartha-Mythos aber wohl eine theosophisch-neuzeitliche Erfindung von Ferdinand Ossendowski.)

Auch technisch wollte er den Zuschauern eine allgemein verständliche Brücke bauen. Daher modifizierte er deutlich Stil und Ausführung in allen tragenden Elementen und griff zum japanischen „Königsweg“: Stilistisch übernahm er Japans bekanntesten Zeichenstil – den seit den 70ziger Jahren besonders von Ghibli propagierten. Dabei war Shinkai so erfolgreich, dass die Zuschauer tatsächlich über weite Strecken das Gefühl haben, in einem Ghibli-Film gelandet zu sein.

Das betrifft nicht nur das Charakterdesign (durchgeführt von Takayo Nishimura), sondern auch Storysetting (die Handlung spielt im ländlichen Japan der 70ziger Jahre), die Zusammenstellung der Akteure (präpubertäres Mädchen, heroischer Junge, süße Miezekatze und fantasievoll gestaltete Shinto-Naturgottheiten, flankiert durch wissende aber begrenzt hilfreiche ältere Erwachsene). Auch die Kostüme und Bauten der mythischen Unterwelt Agartha erinnern stark an „Laputa“, „Erdsee“ oder  „Prinzessin Mononoke“.

Beim Zeichenstil selbst hat man über weite Strecken auf die übliche Konturführung und CGI-Effekte verzichtet – er ist insgesamt weicher gehalten. Beim Soundtrack kam wieder Tenmon zum Tragen, doch auch hier orientiert man sich deutlich stärker am Mainstream, Tenmons unverkennbare Klaviermelodien wurden durch Akifumi Tada symphonisch orchestriert (teils leider bis zur Unkenntlichkeit).

Bei der gesamten Umsetzung ging Shinkai deutlich mehr Richtung Mainstream und manchmal hat man fast das Gefühl, der junge Regisseur wolle sich als Nachfolger des Ghibli-Altmeisters Hayao Miyazaki anbiedern. Doch Shinkais Werk ist mehr als eine Ghibli-Kopie, trotz aller Imitation gibt es auch deutliche Unterschiede. So stellen Shinkais unverkennbare Stärke – die sphärischen Hintergründe, die sich im Gesamt mit dem Vordergrund dynamisch an die Handlung anpassen – manchmal im Sekundentakt – jeden Ghibli-Film im wahrsten Sinne des Wortes in den Schatten: Was Shinkai an himmlischen Wettereffekten aufbietet, sucht seinesgleichen: die bekannten Wolkenpanoramen sind wieder dabei, ebenso wandelbare Sternhimmel, aber auch Nordlichter in Agartha und ein schier unglaubliches Arsenal an Wassereffektszenen.

Ebenso treu geblieben ist sich Shinkai bei der Bildmotivik: Zwar werden viele Ghibli-Motive aufgenommen, aber in Shinkais Motivwelt eingepasst. Insbesondere ätherische Elemente, z. B. Stern, Wolken, Schatten, Regen, Sonnenuntergang tragen weiterhin die typische Bedeutung, die sie auch in früheren Shinkai-Filmen hatten und überlagern die übernommenen Versatzmotive durch ihre monumentale Umsetzung. Gegenüber früheren Shinkai-Filmen sind die Dialoge recht kurz und bisweilen flach, auf reine Gefühlsübermittlung reduziert – ihre Rolle übernahm die stetige Handlung.

In „Children who chase lost voices from below“ sind die kindlichen Akteure Asuna, Shoun und Shin ständig in Bewegung und Interaktion – und selbst wenn sie mal still sitzen, bewegt sich der Himmel oder die Natur um sie herum. Alles, was man wissen soll, wird gezeigt – über die Gesamtlänge von zwei Filmstunden. Zu sehen gibt es dementsprechend viel und in einer Dichte, dass man den Film sicher mehrmals sehen muss, um alles mitzubekommen.

Agnostische Medientherapie statt Shinto-Heilung: Shinkai ist nicht Miyazaki

Bei den filmischen Mitteln mag sich Shinkai stark an Miyazaki orientiert haben und auch bei der Story kommt er ihm oft verdächtig nahe – doch gerade hier sieht man, dass Shinkai und Miyazaki Welten trennen. Kommen die jungen Akteure auch kindlich daher, trollt sich mit der kleinen roten „Mimi“ auch ein ähnlich drolliges Kätzchen über die Kinoleinwand wie in „Kikis Lieferservice“ oder „Königreich der Katzen“ – Shinkai fehlt Miyazakis liebevolle Naivität. Der Grundtenor ist bitterernst. Shinkai bleibt seinem Hauptthema VERLUST treu.

Je weiter die Handlung fortschreitet, desto mehr entfernt sie sich von einem typischen Ghibli-Film. Ohne zu viel von der Handlung zu verraten, die ihren Reiz gerade dadurch gewinnt, dass sie die typischen Ghibli-Zuschauererwartungen immer wieder gekonnt enttäuscht: In „Children who chase lost voices from deep below“ gehen permanent kindliche Hoffnungen baden, sterben teils Hauptcharaktere unwiederbringlich und das Happy-End – wenn man es denn so nennen will – ist typisch atheistisch-individualistisch, nicht wie bei Miyazaki shintoistisch-pantheistisch. Infolge dessen ist die Welt bzw. Natur, zwar optisch Sinn deutendes, aber inhaltich kein selbst in sich Sinn tragendes Element: Böse ausgedrückt: Die Natur ist nur prächtige Staffage für die Story, die sich um das persönlich-menschliche Problem des Verlustes geliebter Menschen und der individuellen Selbstfindung dreht.

Das wird am Ende besonders klar, da die wunscherfüllende Gottheit Agarthas zwar Ziel der Reise, aber letztlich nur leidige Nebenrolle ist; es deutet sich aber schon weit früher an, als der Lehrer Morisaki seiner Schülerin Asuna in seinem Studierzimmer erklärt, dass sich die Götter aus der Welt der Lebenden zurückgezogen haben, ihre Weisheit verloren ist und sie für die modernen Menschen keine Rolle mehr spielen. Dass gerade Morisaki, der „von gnostischem Unsinn“ nach eigener Aussage nichts hält, so vehement an der Wiederbelebung seiner toten Frau durch die von ihm eigentlich abgelehnten Götter festhält, deutet sich schon früh als seine neurotische Verblendung an. Kosequent endet dies am Schluss mit seiner tatsächlichen Blendung durch die Shinto-Gottheit.

Die Gottheit Agarthas trägt letztlich nichts zur eigentlichen Problemlösung bei – womit sich der Anime auch deutlich z. B. vom Miyuki Miyabes „Brave Story“ unterscheidet, das von der Grundhandlung Shinkais Anime sehr ähnelt (und daher auch passenderweise in seiner Anime-Adaption von 2006 als Trailer auf der DVD enthalten ist).

Die in allen Miyazaki-Filmen letztlich präsente Hoffnung auf die Selbstheilungskräfte und Sinnfindung aus der Shinto-Natur oder Weltharmonie fehlt. Gegen den Niedergang Agarthas gibt es auch keine Hoffnung auf Rettung durch beherzte Menschen und die Akteure kümmern sich letztlich auch nicht darum. Es ist halt so, wie es ist, auch wenn im Film immer mal wieder darüber geklagt wird. Menschliche und göttliche Sphäre mögen sich zwar in Agarthas Resten noch überschneiden, haben aber letztlich keine gemeinsame Zukunft mehr.

Damit negiert Shinkai letztlich die Grundthemen von Miyazakis Werken: Selbstheilung durch Rettung der durch menschliches Versagen geschundenen Natur oder Herstellung der Weltharmonie durch Wiedervereinigung mit den naturgöttlichen Prinzipien. Ähnlich wie in „Voices of a Distant Star“ oder „5 Centimeters per Second“ entsteht menschliches Glück nur durch Akzeptanz des persönlichen Verlustes. Rettung ist nicht von außen oder durch Harmonisierung zu erwarten. Insofern ist auch die Message in „Children“ eine deutlich bescheidenere als die eines Miyazaki. Er übt keine Gesellschaftskritik, fordert nicht zum Handeln auf, sondern bietet individualtherapeutische Unterhaltung für die Zuschauer, wie er im Autorenkommentar selbst ausführt:

„Anime und Entertainment ist eine Art Heftpflaster, das die Heilung von Wunden beschleunigt.“

Erweiterte gesellschaftliche Sinnbotschaften sind nicht zu erwarten. Andererseits dürfte der Film motivlich junge Zuschauer überfordern und ist damit nicht wie die optisch ähnlich gehaltene Ghibli-Filme ein „All-Age-Familienfilm“, wenn er auch mit drolligen Elementen daherkommt. Daher ist die deutsche USK-Einschätzung von 12 Jahren inhaltlich auch gerechtfertigt. Als Königsweg taugt der Film eher für Teenies und ältere, wenn sie sich auf das ernste Thema einlassen.

Allerdings – und das muss zu Shinkais Verteidigung eingebracht werden – steht der junge Regisseur noch eher am Anfang seiner Karriere und weist ganz natürlich nicht die milde Altersweisheit eines Miyazakis auf. Wie seinerzeit Hayao Miyazaki – ist Makoto Shinkai ganz ein Kind seiner Generation, die heute eben individualistisch und nicht ideologisch geprägt ist. Sein Film macht andererseits nicht den Fehler der weniger geglückten Ghibli-Produktion „Chroniken von Erdsee“ von Goro Miyazaki, einfach Ghibli-Stil und väterliche Motivik zu kombinieren im Vertrauen darauf, dass das Ergebnis schon irgendwie von allein Sinn produziert. Shinkais Synthese in „Children who chase lost voices from deep below“ verfügt über deutlichen Mehrwert und zeigt das beträchtliche Entwicklungspotential von Makoto Shinkai.

Ich persönlich würde es aber bevorzugen, wenn der nächste Shinkai-Film auch optisch wieder mehr Shinkai ist, denn seine Weiterentwicklung sollte – gerade weil Shinkais Botschaft ja letztlich Individualismus ist – nicht in der Aufgabe seines persönlichen Stils enden. Auch habe ich die durchaus sinnigen Dialoge vermisst, die bislang immer ein Qualitätskriterium Shinkais waren. Die Hauptaufgabe für den jungen Regisseur sehe ich auf Dauer allerdings darin, über sein permanentes Grundmotiv „Verlust“ hinauszuwachsen, denn dies braucht sich langsam auf. Wenn ihm auch motivlich eine Synthese mit anderen großen Vertretern des Animes gelingt, dürfte er als Autor und Regisseur weiter wachsen.

Da sich Shinkai bislang als sehr wandelbar und entwicklungsfähig gezeigt hat, besteht dazu mehr als nur ein Grund zur Hoffnung. Optisch sind seine Filme ohnehin Meisterwerke und „Children who chase lost voices from deep below“ hängt da den Hammer nochmals deutlich höher.

Zur deutschen Fassung

Die deutsche Fassung, veröffentlicht unter dem englischen Titel „Children who chase lost voices“ ist für DVD und Blueray am 27. Juli 2012 bei KAZE erschienen. Die DVD ist in einer „Limited Edition“ im Pappschuber erschienen, die zusätzlich zum 116minütigen Film als Bonus noch ein 45minütiges „Making Of“ enthält. Die deutsche Synchronisierung ist akzeptabel, das Bild selbst auf der DVD-Fassung von sehr guter Qualität. Der Verkaufspreis mit etwa 28 EUR allerdings wieder gewohnt hoch, dafür, dass die „Limited Edition“ sonst keine Beigaben enthält (von der üblichen Trailersammlung einmal abgesehen).

Der Soundtrack zum Film ist in Deutschland leider noch nicht erhältlich.

Weitere Informationen

Über Martin Dühning 1438 Artikel
Martin Dühning, geb. 1975, studierte Germanistik, kath. Theologie und Geschichte in Freiburg im Breisgau, arbeitet am Hochrhein-Gymnasium in Waldshut und ist Gründer, Herausgeber und Chefredakteur von Anastratin.de.