Diplomatenschule

Aus dem Leben einer Botschafterin, Teil 3

Luisa Amiratu verlässt Johtweier
Luisa Amiratu verlässt Johtweier

Luisa Amiratu konnte keinerlei Referenzen vorweisen. Sie hatte in wenigen unbeobachteten Minuten in ihrer Wohngemeinschaft sämtliche Schubladen durchsucht, die ihr in der kurzen Zeit
zugänglich waren.

Doch sie fand nichts, was ihr oder einem möglichen Arbeitgeber hätte Auskunft darüber geben können, wer sie war. Keine Zeugnisse, keine Versicherungsunterlagen oder aufschlussreiche Rechnungen. Keine Briefe. Noch nicht einmal eine einzige lausige Postkarte. Und weil sie befürchtete, ihre Mitbewohner möchten versuchen sie aufzuhalten, fragte sie bei ihnen nicht nach. Im Gegenteil erwähnte sie mit keinem Wort die Stellenanzeige und sagte nichts, was auch nur im Entferntesten darauf hätte hindeuten können, dass sie mit dem Gedanken spielte weg zu ziehen.

„Wann sind Sie geboren, Frau Amiratu?“

„Sie sind doch der Staatsbeamte hier! Können Sie das nicht ganz einfach selbst beantworten, indem Sie meinen Namen in Ihr schickes Laptop da eintippen?“

„Sie haben vor zwei Jahren Ihr bis dahin durchaus erfolgreiches Studium der Kernphysik abgebrochen und danach 14 Stunden täglich auf Basis geringfügiger Beschäftigung im Zentrum für transzendentalzorientierte Praxis und ganzheitlich-spekulative Methodik eines gewissen Herrn Ariel Spirit, selbsternannter Doctor of Metaphysics, in Johtweier gearbeitet. Stimmt das so?“

„Wenn Sie das sagen“, lächelte die kleine Fee unschuldig.

„Wann haben sie aufgehört bei Herrn Spirit zu arbeiten?“

„Müsste das dann nicht Dr. Spirit heißen?“

„Sind Sie aktuell Mitglied der Spirituellen Vereinigung traPragaspeMeth?“

„Ich bitte Sie! So etwas müsste ich doch wissen!“

„Stehen Sie zum jetzigen Zeitpunkt mit diesem Herrn Spiritus oder Mitgliedern seiner religiösen Gemeinschaft in Kontakt?“

„Wie kann ich denn hier alleine vor Ihnen stehen und gleichzeitig mit diesen ominösen traPragaspeMeth-Leuten in Kontakt stehen?“

„Verzeihen Sie die vielen Fragen. Sie gehören zur Routine bei Bewerbern für ein so sensibles Amt! Als Diplomatin werden Sie nicht nur Emolas oder selbst ganz Albitu repräsentieren, sondern unter
Umständen sogar den Olvenias des gesamten salomenischen Bündnisses!“

„Ich verstehe. Fragen Sie nur weiter.“

„Wie stehen Sie heute zu den Lehren besagten Herrn Ariel Spirits und den Doktrinen seiner Spirituellen Vereinigung? Sie leben, wenn ich das richtig sehe, bis zum heutigen Tage in einer
traPragaspeMeth-Wohngemeinschaft.“

„Ich versichere Ihnen, dass ich keine Ahnung habe, wie ich da hinein gerutscht bin. Ich möchte diese WG, Johtweier und alles, was damit zu tun hat, ein für allemal hinter mir lassen. Sonst wäre ich schließlich nicht hier!“ Luisa lächelte noch immer, all ihren bezaubernden Charme spielen lassend.

„Verstehe. Verzeihen Sie. Ich wollte Ihnen nicht unterstellen…“

„Kein Problem. Haben Sie denn noch weitere Fragen?“

„Ähm, ja, also, Sie haben ja keine Referenzen mitgeschickt in Ihren Bewerbungsunterlagen. Was, denken Sie, qualifiziert Sie für eine diplomatische Laufbahn?“

„Ich würde schon sagen, dass ich überaus qualifiziert bin. Allein schon aus den Daten in meinem Lebenslauf, die Sie gerade abgefragt haben, geht doch ganz eindeutig hervor, dass ich durch einen
langjährigen, intensiven Umgang mit Leuten unterschiedlicher Nationalitäten – Johtweier liegt ja an der Grenze zu Spießland – und auf teilweise sehr persönlicher Ebene über einen enormen Erfahrungsschatz in Kommunikationssituationen sowie differenzierte soziale Kompetenzen verfüge. Was mir an diplomatischem Hintergrundwissen fehlt, kann ich mir zweifellose an Ihrer Schule aneignen. Und dass ich lernfähig bin und eine schnelle Auffassungsgabe habe, beweisen ja wohl meine durchaus nicht zu verachtenden Leistungen in einem Studiengang, der meiner Persönlichkeit aufgrund meines sozialen und kommunikativen Naturells auf Dauer leider nicht entsprochen hat. Neugier, Strukturiertheit, Entdeckergeist und ein breites Interesse an allem, was die Welt und seine Bewohner zusammen hält, sind aber Eigenschaften, die nicht nur einem Naturwissenschaftler, sondern auch einem Diplomaten sehr gut zu Gesicht stehen. Das sehen Sie doch bestimmt ganz genau so!“

Was Luisa zu diesem Zeitpunkt nicht wissen konnte, war, dass die Diplomatenschule weder ein vorgegebenes Gebäude noch ein Curriculum noch bezahlte Dozenten vorsah. Emolas hatte, und das war der Grund, warum überhaupt nach Anwärtern gesucht wurde, eigentlich so gut wie keine Erfahrung mit außenpolitischen Beziehung, abgesehen nur von einer Handvoll treuen Verbündeten auf Albitu, mit denen seit vielen Generationen ein Freundschaftsverhältnis bestand. Das Land hatte sich gerade erst aus ziemlich prekären wirtschaftlichen und konstitutionell chaotischen Zuständen aufgerappelt. Der Olvenias des neu gegründeten salomenischen Bündnisses aber sah eine verfassungsmäßige Entsendung von Diplomaten vor. Und da niemand in Emolas so genau wusste, was man sich darunter vorstellen sollte, geschweige denn, wie dies zu bewerkstelligen sei, so überließ man sowohl die Gestaltung der Ausbildung als auch die Wahl des Staates, zu dem diplomatische Beziehungen aufgebaut werden sollten, der Kreativität der jeweiligen Anwärter. Als Luisa Amiratu also zufällig hörte, wie einige Reisende aus Emolas sich über Freunde in einem bis dahin unbekannten fernen Reich namens Nitramien unterhielten, machte sie sich sofort auf den Weg.