Mein Traumnachbar

Ein freundlicher, älterer Herr genießt die Rosen in seinem Garten (Grafik: Martin Dühning)
Ein freundlicher, älterer Herr genießt die Rosen in seinem Garten (Grafik: Martin Dühning)

Mein Traumnachbar wäre ein Gartengenießer, einer mit Sinn für Literatur und Gemütlichkeit, mit dem man plaudern kann, aber nicht muss.

Seine Nachbarn kann man sich in der Regel nicht aussuchen und ich habe mit den meinigen zeitlebens keine guten Erfahrungen gemacht, womöglich aber auch, weil ich zeitlebens deplatziert war an Orten, die meiner Seele nicht entsprachen. Umgekehrt habe ich nie Orte gefunden, die mich eingeladen hätten, sodass ich nun dort bin, wo ich bin und mit jenen, die mir durch Schicksal zugeteilt wurden. Nun kann man sich aber – das ist unsere göttliche Gabe – auch Besseres erträumen, wenn es das Leben nicht hergibt, beispielsweise einen Traumnachbarn:

Mein Traumnachbar, das wäre einer, der die Sachen ruhig angeht und es nicht nötig hat, sich anderen groß zu präsentieren, kein Gartentroll also, sondern ein Gartengenießer, der sich über die Blümchen und besonders die Rosen in seinem Garten freut und manchmal auch freudig lächelnd einfach nur in seinem Garten sitzt und die Stille genießt, ohne Lärm oder den zwanghaften Drang, mit irgendjemand rundherum konkurrieren zu müssen.

Mein Traumnachbar ist ein Mensch, der Verstand mit Herz und Rede mit Kulturwissen kombiniert, eine milde Seele, mit der man über Gott und die Welt und auch die Literatur plaudern kann, aber nicht muss. Ich wünsche mir einen Nachbarn, der mal nicht irgendwelchen Moden hinterherrennt, sondern seinen ganz eigenen Stil pflegt, der darf auch etwas angestaubt sein für Außenstehende, aber bitte mit Tiefgang und ohne allzu große Verernstigung. Ich wünsche mir einen Nachbarn mit einem feinen Sinn für Humor und sprachliche Raffinesse, der Höflichkeit nicht nur als Waffe benutzt, sondern mit Anstand und Respekt und der über sich selber lachen kann statt bloß über andere abzuziehen oder zu lästern, um sein Ego zu vergrößern. Denn der Nachbar meiner Träume ist ein Mensch, der in sich selbst ruht mit romantischem Sinn für Ironie, Kunst und Kultur. Er hat es nicht nötig, andere herabzusetzen, eher hilft er ihnen auf – doch ein selbsternannter Weltenretter ist er auch nicht: Denn mein Traumnachbar weiß, man ist im Leben nur für sich selbst verantwortlich.

Von diesem Nachbarn würde ich mir vielleicht ein gutes altes Buch borgen, das es in den flachen Bibliotheken der Moderne nicht mehr gibt oder eine Rosenknospe, die er selbst aus den Rosen seines Großvaters gezogen hat und ich würde ihm vielleicht zuhören, wenn er aus seiner Erfahrung über das Leben sinniert, über Ideen oder Ideale diskutiert und nicht über Leute. Denn gute Geister reden nicht über andere, weder gut noch schlecht.

Mein Traumnachbar hätte vielleicht sogar einen Hund, aber nur einen ganz kleinen, sanften, keine Drohmaschine und auch kein Ersatzkind. Einen Wegbegleiter, der ihm zuhört, wenn er wieder gedankenverloren mit sich selbst redet. Vielleicht hätte er aber auch eine alte Katze, die immer nur auf ihrem Sessel sitzt und vor sich hindöst.

Meinem Traumnachbarn wird nie langweilig und deshalb fällt er auch niemandem auf die Nerven. Er ist gedanklich offen, sucht nicht übermäßig Kontakt, denn er weiß, er hat ja seine Freunde und es ist nicht nötig, die ganze Welt zu kennen. Wenn man das will, geht man auf reisen oder man liest ein gutes Buch.

Mein Traumnachbar ist wahrscheinlich Mitglied in einem unverbindlichen Lesekreis, vielleicht ein Goetheaner, oder ein Hobby-Aquarellist, oder Fotograf mit einer guten alten Analogkamera, jedenfalls aber kein Polterer und schon gar nicht in einem Narrenverein. Die sind ihm viel zu laut und zu seicht und da sind wir dann auch beide einer Meinung.

In seiner Freizeit besucht mein Traumnachbar vielleicht Rosenausstellungen in Nöggenschwiel oder Ettenbühl. Die Insel Mainau ist meinem Traumnachbarn dagegen schon zu touristisch, da geht er nur in der Nebensaison hin. Gerne wandert er ganz langsam allein oder mit guten Freunden im Schwarzwald und er besucht auch manchmal andere Landschaften in Deutschland. Und sein täglicher kleiner Spaziergang gehört für ihn dazu.

Mein Traumnachbar hat ein hübsches kleines Landhaus mit Bauerngarten. Sein Haus ist etwas altmodisch, hat aber Stil. Der Garten wirkt natürlich und die Vögel lieben ihn. Igel bewohnen ihn, manchmal kommen auch Dachse, Eichhörnchen oder ein Fuchs zu Besuch. In seinem Gartenteich leben Molche und viele bunte Libellen. Schmetterlinge besuchen die verwilderten Blumen, die durch Jahr und Tag blühen. Garten ist für ihn ein Stück lebendige Natur: Alles darf sein, wie es will. Von Schottergärten, Beton oder Kunstrasen hält er nichts. Die bunten Blätter im Herbst lässt er liegen, denn er findet, sie gehören dazu. In seiner kleinen Garage steht ein uraltes Auto, ein echter Oldtimer, den mein Traumnachbar aber kaum benutzt, denn er läuft lieber zu Fuß oder fährt mit langsamen Zügen. Man muss die Welt mit seinen Füßen erfühlen können, wenn man sich bewegt – das ist seine Devise. Mein Traumnachbar lässt sich Zeit und er lässt auch anderen Zeit. Vom Geschwindigkeitswahn der Moderne hält er nichts – dem hält er die Weltseele entgegen.

Musikalisch ist mein Traumnachbar auch und hat immer eine Melodie im Kopf, Melodien, die sich lohnen zu memorieren, klassische, vielleicht auch folkloristische und sehr wahrscheinlich spielt mein Traumnachbar auch heimlich Klavier. Meist improvisiert er, manchmal notiert er da auch Stücke, doch er spielt sie nur ausgewählten Gästen vor und oft anderen auch gar nicht. Musik ist für ihn so eine Art, ganz persönlichen Gefühlen Gestalt zu geben, damit geht man nicht hausieren, und das weiß er. Denn der Nachbar meiner Träume legt großen Wert auf seine Privatsphäre und gesteht sie auch anderen zu.

Ja, das wäre mein Traumnachbar, und irgendwo auf dieser Welt existiert er vielleicht auch, aber leider nicht in Lauchringen. Dort würde er sich, wie ich vermute, wahrscheinlich auch nicht so besonders wohl fühlen, denn da gibt es ja eigentlich fast niemandem, dem seine Art zu leben gefällt – außer mich vielleicht.

Über Martin Dühning 1502 Artikel
Martin Dühning, geb. 1975, studierte Germanistik, kath. Theologie und Geschichte in Freiburg im Breisgau sowie Informatik in Konstanz, arbeitet als Lehrkraft am Hochrhein-Gymnasium in Waldshut und ist Gründer, Herausgeber und Chefredakteur von Anastratin.de.