Der Gott der Reparatur

Müllberge in Myanmar (Foto: Stijn Dijkstra via Pexels)
Müllberge in Myanmar (Foto: Stijn Dijkstra via Pexels)

Der moderne Mensch hält unvermindert am Heldenkult fest, obwohl er eigentlich wissen müsste, dass es realiter weder Halbgötter noch Helden gibt. Die Folge: Menschen werden lieber weggeworfen, als repariert.

Die beste aller möglichen Welten…

Unzweifelhaft leben (oder lebten) wir in der besten aller Epochen, denn nie hatte die Menschheit mehr Potential, auf Erden ein Paradies zu schaffen. Keine Generation vor uns hatte unsere technischen Möglichkeiten. Keine Generation vor uns hatte Zugriff auf so viele wissenschaftliche und kulturelle Informationen. Keine Generation vor uns hatte einen so großen Grad an Alphabetisierung und so viele Individuen mit zeitlichen Ressourcen, weil die Grundbedürfnisse abgedeckt waren. Umso deprimierender ist es, dass man den Reichtum und die Möglichkeiten des 20. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts so wenig positiv genutzt hat. Statt Menschen zu nähren, fließt das Geld in die Waffenproduktion. Wir führen lieber Kriege gegeneinander, als gegen die Krankheiten. Wir wissen es eigentlich besser. Das ist eine schwere Versündigung an der Gegenwart und an den vergangenen Generationen, die für uns mit großem Leid und Mühe die Vorarbeit für unseren heutigen Wohlstand geleistet haben. Und es ist eine Versündigung auch an der Zukunft, die wir mit unserem Verhalten unseren Kindeskindern rauben.

Die individuelle Freiheit, welche die Moderne eröffnete, wird zu wenig sinnhaft genutzt. Eigentlich sollte sich herumgesprochen haben, dass es wenig Sinn macht, Menschen oder Systeme zu vergöttern, wenn man nicht mehr an das Göttliche in der Welt glaubt. Trotzdem tun wir es, oder besser: Wir versuchen es – denn Menschen sind keine Götter, sondern unvollkommene Wesen, eine Eigenschaft, die uns letztlich einzigartig macht. Denn der Perfektion wohnt keine Individualität inne. Statt aber die individuellen Eigenarten und Begrenzungen als fundamentalen Teil authentischer Menschlichkeit zu akzeptieren, werden weiterhin Kulte um Idole und Rollenbilder betrieben, werden Schönheit, Intelligenz, Stärke und Macht vergöttert. Und ja, das ist eigentlich genau das, was die Bibel „Götzenkult“ nennt.

Nun leben wir aber natürlich in zutiefst aufgeklärten Zeiten, sind die gescheiteste Generation, die jemals diesen Planeten bevölkert hat (wovon seltsamerweise jede Generation der Menschheitsgeschichte ausging) und angestaubte biblische Weisheiten, die ein paar Jahrtausende alt sind, haben natürlich keinerlei Relevanz mehr für den supermodernen Menschen von heute…

Nun ja, ich will ja nicht leugnen, dass die Säkularisierung, die den großen Kirchen (nicht aber den Sekten) ihre Macht raubte, mehr Vorteile brachte als Nachteile, allerdings wird dann heutezutage oft doch das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, wenn man Religion in eine private Beliebigkeit abschiebt, denn das bloße Ignorieren kultureller und besonders philosophisch-religiöser Bezüge spricht mitnichten für eine aufgeklärte Gesellschaft: Menschen, die keine Ahnung von kulturellen Traditionen haben, sind nicht unbesudelt von Vorurteilen, sondern einfach nur dumm. Besonders dumme Menschen sind aber anfällig für verquere Ideologien aller Art, besonders auch solche, die Perfektion und Macht versprechen. Daher blüht besonders heute der Jahrmarkt der Heilsangebote wieder, allerdings mit hippen neuen Begriffen aus Mode, Technik und Wellness. Glück versprechen sie demjenigen, der ihnen Tribute zollt. An der Realität des Lebens scheitern sie allerdings alle, weil man Glück und Sinn nicht einfach kaufen kann. Zudem sind Privatutopien oft irrational und asozial, weil sie dazu neigen, subjektive Empfindlichkeiten, das Ego, absolut zu setzen. Menschen sind aber Beziehungswesen und auf Gemeinschaft angewiesen, besonders die Schwächeren.

Mögen die alten Symbole und Bilder der großen Religionen auch aus anderen Epochen stammen, so sind ihre anthropologischen Grundaussagen doch klassisch und zeitlos. Dazu zählt die Würde jedes einzelnen Menschen, die überhaupt nichts mit Perfektion oder einem Übermenschentum zu tun hat, sondern aus der Einzigartigkeit resultiert, eine Singularität, die sich gerade auch aus der Schwäche des Geschöpfes ergibt. Ein gläubiger Mensch würde es mit Paulus so formulieren:

„Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“ (1 Kor 12,9)

Ein weniger religiöser Mensch kann immer noch mit Camus auf den „Mythos vom Sisyphos“ verweisen: auch in der an-sich absurden Welt kann ein Mensch Sinn finden, indem er sich – trotz der Bitternis – mit seiner Umwelt auseinander setzt, gerade im Scheitern liegt dann auch die Würde.

Das goldene Kalb der Moderne

Einfältige Menschen allerdings setzen sich erst gar nicht mit ihrem Umfeld auseinander, sondern suchen das göttlich Perfekte in sich selbst durch irgendwelche Produkte oder Techniken, obwohl sie doch eigentlich an Magie oder Götter gar nicht mehr glauben – oder das zumindest behaupten. Denn wer Eigenschaften verabsolutiert oder Übermenschen sucht, die es eigentlich gar nicht geben kann, der praktiziert einen recht infantilen und überaus projektionsverdächtigen Aberglauben, der in der harten Realität nur enttäuscht werden kann. Es wird dann auch nicht besser, wenn wir diesen infantilen Heilsglauben dann nicht auf den Menschen selbst, sondern dessen Schöpfungen, Statussymbole, besonders beispielsweise die IT-Produkte oder Lifestyle ausrichten. Ob ich jetzt an ein Hightech-Unternehmen, die perfekte gesunde Lebensweise oder die heile Welt durch Wissenschaft und KI glaube – es ist ein magisches Denken, das rational eigentlich nicht an der Realität verifizierbar ist und unreflektiert Sehnsüchte auf Teilbereiche der Wirklichkeit projiziert. Die Gurus von heute bieten ihre Produkte heute als Influencer an, als Idole der Gegenwart, Illusionisten, die medienwirksam Perfektion verkörpern.

Das ist insbesondere fatal deswegen, weil kulturhistorisch betrachtet alle diese Kulturprodukte nicht existieren würden, wenn Menschen nicht per se an ihrer Unvollkommenheit leiden würden – die meisten Erfindungen und Kulturleistungen stammen eben gerade nicht von perfekten, sondern eher besonders imperfekten Menschen, ob es sich um Optik, Mechanik oder ethisch-philosophische Meilensteine handelt. Beispielsweise führte Stephen Hawkins, dem man in keiner Weise besondere Religiosität nachsagen kann, sicher kein körperlich perfektes Leben – und doch wäre die Physik des 20. Jahrhunderts ohne ihn wesentlich ärmer. Damit will ich keinesfalls Krankheiten oder Leid glorifizieren, was uns leiden lässt, ist gerade nicht gut, aber die menschliche Sehnsucht und Kraft ist besonders dann stark, wenn es eben gerade nötig ist. Würden wir also unsere Fähigkeiten dazu verwenden, „perfekte“ Menschen zu erschaffen, würden wir eben gerade keine Leistungsträger erschaffen, wie Nietzsche das annahm, sondern „Normalos“, weil unsere Vorstellungen von „Perfektion“ in Wirklichkeit oft nichts anderes sind als Idealbilder der Konventionalität, oberflächlich schön, aber ohne tieferen Sinn – so wie das eben auch aktuelle KI-Produkte sind.

Der Mensch als Wegwerf-Produkt

Perfekte Übereinstimmung mit Rollenbildern oder Erwartungen ist nur perfekte Systemkonformität – „Mittelmaß“, wie es Enzensberger ausdrücken würde. Doch gerade gegen das Mittelmaß sträuben wir uns am meisten, weil es als das Gegenteil erscheint, was wir erhofft hatten. Und besonders gnadenlos bestrafen wir Menschen, wenn sie unseren noblen Ansprüchen nicht mehr genügen.

»Du bist nicht«, sagt der Enttäuschte oder die Enttäuschte: »wofür ich Dich gehalten habe.« Und wofür hat man sich denn gehalten? Für ein Geheimnis, das der Mensch ja immerhin ist, ein erregendes Rätsel, das auszuhalten wir müde geworden sind. Man macht sich ein Bildnis. Das ist das Lieblose, der Verrat.“ – Max Frisch, Du sollst dir kein Bildnis machen, 1946

Nun sind wir zum Glück noch nicht so weit, dass sich menschliche Gesellschaften aus dergestalt „optimierten“ Designerbabies zusammensetzen, tatsächlich haben wir aktuell eher das Problem, dass wir versuchen, perfekte, system-kompatible Menschen aus der noch nicht „optimierten“ Masse herauszusuchen. Wir sprechen dann heute von „Fachkräftemangel“, der sich daraus ergibt, dass wir mit den real existierenden Menschen unzufrieden sind und weniger in die Bildung als in das Menschenmonitoring setzen. Nicht besser übrigens wird das Ganze, wenn wir auf magische Praktiken oder Artefakte zurückgreifen, die normale Menschen auf wundersame Weise zu Halbgöttern erheben. Wir nennen das dann heute aber natürlich, wissenschaftlich akkurat „Digitalisierung“. Denn wie jeder weiß, macht ein Markenhandy aus ganz normalen Menschen Genies, die mühelos aus dem Nichts Wunder erschaffen, vor denen jeder biblische Prophet erblassen würde. (Freilich eher aus Entsetzen über die ethische Einfalt, die hinter einer solchen Haltung steckt.)

Ich will auch die Leistungen der modernen Konsumgesellschaft nicht leugnen, aber wir leben aktuell in einer Wegwerfgesellschaft, die täglich neu nach perfekten Produkten sucht, die wir, wenn sie uns nicht mehr perfekt genug erscheinen, einfach wegwerfen – und wir tun das auch mit Menschen, wenn sie unseren Ansprüchen nicht mehr genügen. Und da kein Mensch, siehe oben, dauerhaft solchen Ansprüchen genügen kann, wird jeder Mensch heute irgendwann „entsorgt“ aus unserem perfekt individualisierten Leben. Deshalb sind Partnerschaften nicht mehr von Dauer und auch dauerhafte echte Freundschaften seltener geworden. Wir suchen uns, im Rahmen unserer eigenen konsumistischen Perfektionierungsbemühungen einfach neue Selbstergänzungen und werfen die Beziehungen danach weg, wenn sie dysfunktional oder nicht weiter opportun erscheinen, statt sie zu reparieren. Wir streben nach dem perfekten Bildnis und weisen Menschen zurück, weil wir ihre Andersartigkeit nicht mehr ertragen.

Diese Haltung, schon von Max Frisch bemängelt, ist nicht ganz neu, wir finden sie besonders auch im Menschenbild des Hellenismus wieder als dessen Schattenseite. Wer so nach Perfektion strebt wie die antiken Griechen, der verachtet die Schwäche. Umso wichtiger waren in der Spätantike religiöse Strömungen wie das Christentum, die dem intellektuellen Kultdenken einen barmherzigen Gott entgegensetzten, einen Gott der Schwachen, der Armen, der heilt und der versöhnt, ein Gott der Reparatur – einen solchen Gott oder doch zumindest seine Botschaft können wir gerade auch im 21. Jahrhundert brauchen, denn sie kann trösten und versöhnen – auch mit uns selbst:

„Jedes Mal sagte er: »Meine Gnade ist alles, was du brauchst. Meine Kraft zeigt sich in deiner Schwäche.« Und nun bin ich zufrieden mit meiner Schwäche, damit die Kraft von Christus durch mich wirken kann.“ (Phil 4,13)

Barmherzigkeit, nicht Opfer

Es ist, auch wenn der Kreuzestod Jesu sicherlich immer Anstoß erregen muss, die spezifische Stärke des Christentums, dass sie vorrangig die Solidarität Gottes mit den (tatsächlich oder angeblich) Gescheiterten betont, einen Gott zeigt, der sich mit ins Leid der Menschen begibt, statt apathisch darüber zu wachen. Und es ist die besondere Stärke der Botschaft des Jesus von Nazareth, dass er einen Gott verkündet, der sich gerade um die Verlorenen kümmert und der Todkranke heilt, statt sich in intellektuellen rhetorischen Diskursen zu verlieren oder der damit angeben würde, dass man Gesetze, auch physikalische, ganz einfach nach Gutdünken brechen könnte, bloß wenn man Lust darauf hat.

Wunder sind keine Akte der Willkür, sondern ein Zeichen der Beziehung dieses barmherzigen Gottes, dem die Großen, Schönen und Reichen eher egal sind, der also ein Kontrastprogramm zur menschlichen Idolatrie fährt. Genau dieser Gott ist einer, der auch heute noch überzeugt, der Gott der kleinen Leute, nicht der Imperatoren-Herrscher vom Juwelenkreuz. Wir brauchen einen „Gott der Reparatur“ und wer ihm wirklich nachfolgen will, der braucht keine Eventkirche mit konsumierenden Kunden, sondern der folgt ihm nach, indem er die Botschaft verinnerlicht und auch in seinem eigenen Leben versöhnt und repariert, was mit persönlichem Verzicht verbunden ist. Denn etwas zu reparieren bedeutet, auf allzu große Perfektion zu verzichten um der Sache wegen. Ich denke, das kann man auch nicht wirklich als Hobby betrachten, es muss Teil des ganzen Alltags sein und zwar so, dass man daran nicht zugrunde geht, denn das ist sicher nicht der Wille eines heilenden Gottes. Denn zur Heilung gehört auch die Gabe gemeinsamer Freude – und das kann man nicht allein. Daher ist es auch nie eine rein individuelle Angelegenheit, es braucht eine Gemeinschaft, die danach handelt.

Mit unserer materiellen Wegwerfgesellschaft, die perfekte Produkte verherrlicht, beuten wir die Ressourcen unseres Planeten aus und zerstören die Grundlagen unseres leiblichen Überlebens. Mit unserer zwischenmenschlichen Wegwerfmentalität, die Schwächen und Fehler nicht akzeptieren will, höhlen wir das moralische Netz unserer Gesellschaft aus und schüren Unzufriedenheit und Frust. Beides zerstört die Grundlagen menschlicher Zivilisation. Ich würde mir wünschen, dass wir unsere Konsumgesellschaft in eine Reparaturgesellschaft umwandeln, welche Wunden heilt und Unzulänglichkeiten aushält, anstatt alles immer mehr auf vordergründigen Nutzen und Effizienz zu trimmen. In diesem Sinne sollte dann auch KI genutzt werden, nicht um das Konsumsystem zu schmieren, sondern um Leid zu lindern und Missstände zu reparieren. Dies kann aber nicht auf quasi-magische Weise im blinden Glauben an regulatorische Algorithmen geschehen, sondern nur mit ethischem Augenmaß. Und solches setzt Grenzen. Grenzen auch des Wachstums.

Diese Gesellschaft wird dann auf den ersten Blick als weniger perfekt erscheinen und – da wir aktuell nur kommerzielle Maßstäbe ansetzen in allen Bereichen unseres Lebens – als weniger profitabel erscheinen. Aber sie wäre menschlicher, im wahrsten Sinne des Wortes: Weil sie jeden Menschen als das nimmt, was er ist, ein endliches Subjekt mit Stärken, aber eben auch mit Unzulänglichkeiten und Schwächen.

 

Über Martin Dühning 1438 Artikel
Martin Dühning, geb. 1975, studierte Germanistik, kath. Theologie und Geschichte in Freiburg im Breisgau, arbeitet am Hochrhein-Gymnasium in Waldshut und ist Gründer, Herausgeber und Chefredakteur von Anastratin.de.