Das Zeitungsorakel: Tanzen am Abgrund?

„Der Narr“, die Karte Null der großen Arkana im Tarot von Rider Waite zeigt einen adretten Jüngling, der frohgemut und ohne auf den Weg zu achten auf einen Abgrund zutänzelt. Begleitet wird der junge Mann von einem freundlichen weißen Hündchen, das ihm fröhlich zubellt und sicher nicht bissig ist. Immerhin scheint ja auch über allem energisch die Sonne.

Wie bei den meisten Karten von Waite ist auch diese vollgestopft mit den Archetypen aus der zeitgenössischen Tiefenpsychologie. So verkörpert die Karte neben einigen positiven Aspekten auch diverse negative Eigenschaften, insbesondere Unachtsamkeit und Sorglosigkeit, wo sie vielleicht nicht ganz angebracht wäre. Eine andere interessante Karte in dieser Hinsicht ist „der Turm“. Von Schönwetter kann hier keine Rede mehr sein; Gewitter stürmt. Hier sieht man einen hohen, explodierenden Turm, aus dem, vom Blitz getroffen, Menschen herausstürzen. Während der Narr immerhin noch sorglos ist, fühlt man sich bei dieser Karte an biblische Katastrophen erinnert – es ist alles zu spät.

Doch wer in der Welt informiert sein will, liest heutezutage nicht in den Karten, sondern in der Zeitung. Dieser Tage findet man auch dort allerorten Hiobsbotschaften und verängstigte, moderne Menschen kommen darin zu Wort. Menschen, die darum bangen, dass ihr Lebensstandard unverhofft absinkt, ja abgrundtief sogar, könnte man meinen. Menschen, die befürchten, dass ihre allernotwendigsten Bedürfnisse nicht mehr befriedigt werden können, darunter so grundlegende Menschenrechte wie

  • das Recht auf Billigflüge,
  • das Recht auf einen Zweit- und Drittwagen,
  • das Recht auf Verdopplung des Stromverbrauchs alle zwei Jahre,
  • das Recht auf Billigdiscounter mit Lebensmitteln, deren Preise unter den Herstellungskosten liegen.

Verunsicherte Menschen, so versicherte mir mal ein Versicherungsvertreter, sind wie verletzte Tiere. Sie neigen dazu, zu beißen, herumzuspringen oder sich in irgendwelchen dunklen Ecken zu verstecken. Sie haben Angst, werden gefährlich, sodass einem ganz bange werden könnte.

Nun ja, ich meine, Menschen sind eigentlich keine Tiere. Insofern muss man auch keine Angst haben, dass man von ihnen an der Tankstelle gebissen wird, wenn die Spritpreise weiter steigen. Allerhöchstens überfallen sie im Staatsverbund ein paar ölreiche Schurkenstaaten oder bauen sich ein paar neue Atommeiler, die irgendwann wie vom Blitz getroffen explodieren, oder sie palavern zumindest wilde darüber, weil – Hand aufs Herz – Elektroautos ja so beliebt auch nicht sind. Fliegen tun die jedenfalls nicht bei ihren derzeitigen Fahrwerten.

Ich persönlich bin noch nie geflogen, außer auf die Nase vielleicht. Aber jedenfalls nicht mit einem Flieger, auch mit keinem billigen, weder in den Norden noch in den Süden, obwohl ich es schon gerne mal getan hätte, besonders im düsteren Schmuddeldezember. Nun werde ich vielleicht nie dazu kommen, aber existenziell betreffen wird es mich auch nicht. Vielleicht wird der Fluglärm über dem Haus etwas weniger und ich kann nachts ruhiger schlafen, auch bei schlechtem Wetter. Da wäre dann schon einiges gewonnen. Immerhin könnte man dann ja wieder ungestört von Palmen träumen, von Gran Canaria oder von Lanzarote, der Vulkaninsel.

Ach, Udo Jürgens hat im Frühjahr mit seinem Schlagerhit „Tanz auf dem Vulkan“ doch den Nagel auf den Kopf getroffen. Da waren die Spritpreise und Stromkosten noch vergleichsweise unten, die Nahrungskrise noch unscheinbarer. Aber eigentlich war das, was er beschreibt, ja längst sichtbar. Nur sehen wollte es keiner und solange man nicht mit der Nase an seine Grenzen stößt, ist vielen ja egal, wenn das Ende naht. Wenn wir mal nur nicht stürzen beim Tanz!

Über Martin Dühning 1520 Artikel
Martin Dühning, geb. 1975, studierte Germanistik, kath. Theologie und Geschichte in Freiburg im Breisgau sowie Informatik in Konstanz, arbeitet als Lehrkraft am Hochrhein-Gymnasium in Waldshut und ist Gründer, Herausgeber und Chefredakteur von Anastratin.de.