Säkulare Sonntagspredigten

Sonntag mal wieder, erster Advent. Betrachtet man die Einkaufsgassen, wo man in dieser Vorweihnachtszeit besonders auch am Wochenende dem Geldgott huldigt, dann wird einem ganz neoliberal ums Herz. Wendet man sich der virtuellen Agora von Facebook & Co zu, kann man stattdessen so mancher säkularer Sonntagspredigt lauschen.

Bei Facebook, Twitter & Co sammeln sich jeden Sonntag die deutschen Wutbürger und halten dort, jeder für sich, wie in der Speaker’s Corner des Londoner Hydeparks, einen moralischen Redebeitrag oder verteilen Links auf solche. Meist drehen sie sich um den nahenden Weltuntergang und dass man zu wenig dafür oder dagegen getan hat. Dass man zu lange abwartet. Dass es genau jetzt die Zeit ist umzukehren. Dass wir nicht mehr länger warten können. Und dass es nicht reicht, Reden darüber zu halten.

Eine beliebte Variante, weil einfach, ist die Contra-Rede gegen irgendetwas, vorzugsweise gegen etwas, das vielen anderen Leuten auf der Plattform gerade gefällt, das aber auch mindestens eine Schattenseite hat, weshalb für den mündigen Bürger nur noch der komplette Boykott in Frage kommt. Letztlich läuft es immer darauf hinaus, dass ein wahrhaft guter Mensch eigentlich jetzt und sofort sein Handeln und seine Gesinnung grundlegend ändern müsse, dass er ab sofort kein Fleisch, kein Auto, keine Getränke oder Nahrungsmittel aus dem Supermarkt, keine kommerziellen Kinofilme, keine industriellen Textilien, Gebrauchsgüter oder Elektronikartikel, keine kommerzielle Musik, keinen Strom von einem Großanbieter, keine Banken, keinen unverhüteten Sex und auch kein ideologielastiges Kinderspielzeug, keine etablierte Partei, Religion oder Weltanschauung mehr in irgendeiner Weise benutzen, gebrauchen oder unkritisch darüber sprechen oder auch nur darüber denken darf.

Letztlich wäre folglich die einzig konsequente Reaktion, der verderbten westlichen (und östlichen und südlichen und nördlichen) Zivilisation jetzt sofort und ganz den Rücken zuzukehren und sich als fruktaner Eremit nackt in die Wildnis zurückzuziehen. Und konsequent über alles zu schweigen.

Dass ein solcher nicht mehr Mitglied in irgendeinem elektrischen „sozialen Netzwerk“ sein kann, das haufenweise Elektronik und (meistenteils nicht erneuerbare) Energie voraussetzt und permanent unreflektierte Ideologie in die Welt stößt, sollte eigentlich klar sein. Stattdessen reagieren die „Follower“ aber regelmäßig damit, dass sie alles und jedes „liken“ – selbst gegensätzliche Beiträge. Man hat keine Probleme damit, jederzeit für alle Beiträge zu sein, die gegen alles sind. Einzig und allein bei „Liebe und Mitgefühl“ sollte man unkritisch dafür sein, wobei aber auch hier regelmäßig betont wird, dass natürlich nicht die traditionelle Nächstenliebe gemeint ist, sondern man vor allem „sich selbst lieben und annehmen“ müsse.

Wenn dem tatsächlich so ist, frage ich mich aber doch, warum man sich dann selbst so viele Antihaltungen auferlegt? Entsteht das Gute etwa nur dadurch, dass man alles potentiell Unperfekte durchstreicht? Liest man sich die Facebookpredigten durch, hat man das Gefühl, dass hier ein wesentlich schlimmerer Rigorismus am Werk ist, als in früheren Zeiten beim kirchlichen Dorfprediger. Dort konnte man als sündig-unperfekter Mensch wenigstens auf einen letztlich doch barmherzigen Herrgott hoffen und ein niedliches, versöhnendes Jenseits nach durchgestandener Passion.

Der moderne säkulare Bürgerprediger kennt aber keine Vergebung und keine Erlösung mehr, nur Passionen. Wer seine perfekten moralischen Maßstäbe nicht verwirklicht, verdient keine Gnade. Außerhalb des individualistisch-öko-libertär-sozialistischen Moralrigorismus‘ gibt es kein Heil und natürlich auch kein Jenseits.

Daher muss er auch gar nicht erst erklären, warum man denn auf all die zivilisatorischen Errungenschaften der letzten 6000 Jahre verzichten muss, um ein aus seiner Sicht guter Mensch zu sein und warum der „Natur“ demgegenüber eine quasi-religiöse Bedeutung zugemessen wird, warum es überhaupt sinnvoll ist, sich um künftige Generationen zu sorgen oder warum der Klimawandel gestoppt werden muss, um die Zivilisation zu retten, wenn diese doch ohnehin schlecht und verderbt ist.

Man muss das halt. Punkt.

Sucht man hinter diversen Moralappellen und verkappten Unterstellungen nach dem zu Grunde liegenden Sinn, findet man daher regelmäßig nichts vor als versteckte Wut und Unzufriedenheit gegen die Welt da draußen. Solche steigert sich nach ausnehmlicher Lektüre der Predigtbeiträge auch beim Leser. Zwar mag ein herzlich gemeintes „Empört euch!“ gegenüber einem übersättigtem Konsumbürgertum eine passende Handlungsempfehlung darstellen.

Doch in der säkularen Sonntagspredigt des Wutbürgers ist das dagegen oft sogar der vermittelte Grundwert. Ob das dann in irgendeiner Weise ethisch und moralisch weiterführt, ist sehr fraglich.

AMEN.

Über Martin Dühning 1436 Artikel
Martin Dühning, geb. 1975, studierte Germanistik, kath. Theologie und Geschichte in Freiburg im Breisgau, arbeitet am Hochrhein-Gymnasium in Waldshut und ist Gründer, Herausgeber und Chefredakteur von Anastratin.de.