Die Würde des Menschen ist unantastbar!

Erschütterte Frau (Foto: Shashank Kumawat)
Erschütterte Frau (Foto: Shashank Kumawat)

Rechtstexte haben selten philosophische Tiefe, das ist auch nicht ihre Aufgabe, sondern Restriktion und Regulation zur Setzung rechtlicher Rahmenbedingungen. Dennoch zählt der berühmte Satz aus Artikel 1 Grundgesetz zu den tiefsinnigsten Phrasen der Neuzeit.

„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ – So lautet der berühmte Absatz 1 von Artikel 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland.

Als im September 1948 bis zum Juni 1949 vom Parlamentarischen Rat das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland erarbeitet wurde, war die Katastrophe des Dritten Reiches und des Zweiten Weltkrieges noch sehr präsent. In weiser Voraussicht besann man sich daher, nach einem Jahrhundert fragwürdiger Ideologien als Sinnstiftung, den Wert einzufordern, der allen anderen zugrunde liegen sollte: die Menschenwürde.

„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ – Nachdem die katastrophalen Folgen allzu sichtbar geworden waren, wenn man das Wertegerüst eines Staates an Maßstäben wie Nationalität, Volk oder gar Rasse aufhängt, aber auch an einer spezifischen Religion oder Sekundärtugenden wie deutschem Fleiß, Pünktlichkeit oder einer selbstbequemen Heimattümelei, war das geradezu ein Befreiungsschlag. Auch „Demokratie“, „Freiheit“ und „Gerechtigkeit“, ja selbst ein generalisierter Wert wie „Leben“ lassen sich instrumentalisieren und reichen als Wertbegründung nicht. Menschenwürde ist ein bleibend aktueller Wert, der auch heute noch weiser erscheint als z. B. das Gemeinwohl oder gar wirtschaftliches Wachstum zum Primärziel zu erklären. Wohl weil die Wahrung der Menschenwürde eine zeitlose Aufgabe ist, behielt man das eigentlich als Provisorium bis zu einer deutschen Einigung angedachte Grundgesetz auch nach 1989 bei, unter anderem, weil es gerade in der Formulierung der Grundwerte kaum zu verbessern war. Gut, wahrscheinlich greift es zu kurz, wenn man nur die Würde des Menschen achtet, nicht auch pflanzlichen und tierischen Lebens – andererseits bleibt „Menschenwürde“ konkret genug, um mehr als Attitüde zu sein.

Allerdings, so oft GG Artikel 1 Absatz 1 auch zitiert wird, stehen inzwischen andere Werte in der Diskussion: Gleichberechtigung, Chancengleichheit oder das Recht auf individuelle Entfaltung werden heute wesentlich häufiger aktiv eingefordert als Menschenwürde. Für viele steht kommerzielles Wohl und wirtschaftliche Prosperität auch an erster Stelle. Wieder andere überspannen den Bogen, wenn sie einfach alle Werte gleichermaßen einfordern. Insbesondere, wenn moralisches Engagement zum Aktionismus verkommt und wenn dort dann auch noch der Zweck die Mittel heiligt, zur Durchsetzung also jedes Mittel erlaubt ist, dann kommt die Menschenwürde zu kurz.

Was hilft denn Gleichberechtigung, wenn durch einen grobschlächtigen politischen Diskurs politische Gegner menschlich genichtet werden, indem man Werte mit würdeverletzender Rechthaberei durchsetzt und den Gegner nicht umstimmen, sondern zerstören will? Insbesondere in Deutschland ist es beliebter, mit dem moralischen Zeigefinger wilde in anderer Leute Wunden herumzubohren, als die Menschenwürde durch aufrichtige Wertschätzung zu achten. Wäre es anders, würde man vielleicht dem Ehrenamt sehr viel mehr Wertschätzung entgegenbringen, statt sich immer als Kunden zu sehen und von anderen Menschen perfekte Dienstleistungen einzufordern, auch in Sachen Moral, zumal ohne entsprechende eigene Gegenleistung. Sicher, Moral ist eigentlich selbstverständlich, also unbezahlbar – aber man sollte dann doch selbst auch den Anforderungen entsprechen, die man von anderen Leuten stets erwartet.

Nicht, dass dies falsch verstanden wird: Missstände in Sachen Menschenrechte sollten immer sanktioniert werden, auch 2025. Rassismus, Sexismus sind nicht zu dulden. Das allerdings reicht noch nicht, um der Menschenwürde wirklich gerecht zu werden! Nicht nur moralische Besserwisserrei, ja selbst die Vermeidung von Verstößen ist unzureichend: Die Würde des Menschen wird nämlich vor allem durch Anerkennung, Achtung des Anderen und respektvollen Umgang miteinander verwirklicht. Egoistische Rechthaberei dagegen und eine Individualgesellschaft, die andere nur anerkennt, wenn perfektionistisch Wertemaßstäbe umgesetzt werden, geht ebenso fehl wie die allerorten feststellbare Ignoranz gegenüber existierenden zwischenmenschlichen Missständen, die nicht behoben werden, weil sich keiner dafür verantwortlich fühlt.

Es ist sehr bezeichnend, vor allem für den deutschen Diskurs, dass er lieber Sprache und Begriffe reguliert, als wirklich etwas substanziell an den Zuständen zu ändern. Und so bleibt im Alltag das Elend vor allem für die Gruppen präsent, die unseren hehren Idealen nicht entsprechen. Insbesondere, wo dies gänzlich unverschuldet passiert, bei Alten, Kranken und auch zunehmend Armen in Deutschland, aber auch im Bereich der Ökologie, überschreitet der Diskurs oft die Grenze zur Heuchelei. Denn eine Generation, die weder Kriege, noch Hungerzeiten oder echte Seuchen erlebt hat, vertut ihre Zeit mit Maximalforderungen, ohne auch nur im geringsten eine soziale Gegenleistung zu erbringen, um die Werte sicherzustellen, die sie von anderen einfordert. Kein Wunder, dass Neid und Unzufriedenheit wuchern und vor allem auch Wut, weil Ideale und Realalltag oft so deutlich auseinanderdriften.

Eine Ursache dafür scheint mir aber auch darin zu liegen, dass wir der persönlichen Selbstperfektionierung höheren Sinn zumessen als der Würde des Mitmenschen, der uns und unseren Ansprüchen allzu häufig im Wege steht. In einer Grundhaltung moralischer Überlegenheit spiegelt sich selten echtes ethisches Handeln. Es entsteht selten Gutes, wenn man Ethik mit Livestyle verwechselt, woran nicht nur soziale Gerechtigkeit, sondern auch Umweltschutz realiter meist scheitern.

In einer Selbstbedienungsgesellschaft bleibt daher GG Artikel 1 Absatz 1 weiterhin eine wichtige Mahnung: Die Achtung und der Schutz der Menschenwürde bleibt primäre Pflichtaufgabe des Staates und der Gesellschaft. Die Ästhetisierung des Diskurses steht dem oft genug im Wege. Denn wenn man nur auf hübsche Sprachfassaden achtet, statt auf die echten Wertefundamente, muss man sich nicht wundern, wenn das gesamte Staatsgebäude marode wird und ins Wanken gerät.

Über Martin Dühning 1595 Artikel
Martin Dühning, geb. 1975, studierte Germanistik, kath. Theologie und Geschichte in Freiburg im Breisgau sowie Informatik in Konstanz, arbeitet als Lehrkraft am Hochrhein-Gymnasium in Waldshut und ist Gründer, Herausgeber und Chefredakteur von Anastratin.de.

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