Zeitraub und Diktatur des frühen Huhns

Alle Frühlingsmonde wieder ist es soweit und der alljährliche Krampf geht in eine neue Runde – die Diktatur der frühen Hühner beginnt: Mit der Zeitumstellung wird uns morgens eine schöne Stunde Schlaf abgestückt und dort angestückelt, wo sie niemand brauchen kann.

Dunkle Zeiten brechen wieder an (Foto: Sandra Rönnau)
Sommerzeit: Dunkle Zeiten brechen wieder an (Foto: Sandra Rönnau)

Normalerweise bin ich ja nicht so der Freund von Verschwörungstheorien, in Sachen Sommerzeit spricht aber einiges dafür, dass sich hier ein Haufen notorischer Frühaufsteher konspirativ zusammenschloss, um unter allerhand fadenscheinigen und bürokratisch ausgeklügelten Vorwänden unschuldigen braven Menschen das Leben zu vergällen. Es ist ja ohnehin schon eine Strafe, als Lehrer zu Unzeiten aufzustehen zu müssen, wenn andere brave Bürger noch ruhig schlafen können, bloß um dann mit Jugendlichen, die meistenteils noch sehr viel weniger Frühaufsteher sind, gemeinsam gegen natürliche Biorhythmen anzukämpfen – eine insgesamt doch recht unnütze Sache, trotz intensivem Koffeineinsatz an den Schulen – besonders in den Lehrerzimmern. (Nimm den Lehrern ihre Kaffeemaschine und der Unterrichtsbetrieb bricht zusammen!)

Historisch gesehen begann der alljährliche Schlafraub in Deutschland 1916, im tiefsten Krieg, wo die Menschlichkeit ja immer auch mit Füßen getreten wird. Ideengeschichtlich ist der institutionalisierte Schlafdiebstahl denn auch einerseits eine konsequente Fortführung von postpuritanischem Misstrauen gegen jegliche Art von Erholung („Leben ist Leiden, alle Muße kommt vom Teufel“), sozialdarwinistischem Frühkapitalismus („Der frühe Vogel fängt den Wurm!“) und preußischem Kasernendrill andererseits („Stirb für dein Vaterland!“).

So ist es nicht erstaunlich, dass in Friedenszeiten oft nichts mit Zeitumstellung war – den Ersten Weltkrieg überlebte sie denn auch nicht und wurde erst wieder im Zweiten Weltkrieg durchgesetzt. Auch in der Besatzungszeit existierte sie noch für vier Jahre, ja 1947 war man sogar so frech, den gebeutelten Nachkriegsdeutschen gleich zwei Stunden Schlaf zu demontieren, was glücklicherweise dann in der BRD beseitigt wurde, just vor dem Wirtschaftswunder: In den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik, als man noch einigermaßen ausgeschlafen war und noch ein wacher freiheitlich-friedlicher Geist durch die junge Republik wehte, gab es keine „Sommerzeit“, erst 1978 konnten sich die militanten Frühaufsteher wieder durchsetzen mit dem Vorwand der Ölkrise. (Seltsam, brauchen Autos eigentlich wirklich weniger Benzin, wenn man damit früher fährt?)

Tja, seither ist nicht mehr viel mit Ausschlafen im Sommer und keiner scheint dagegen Einwände zu haben. Wahrscheinlich ist die Gegenseite durch dauerhafte Übermüdung eh längst viel zu geschwächt, nach 30 Jahren voller gestohlener Morgenstunden. Trotzdem gehen den Frühaufstehern langsam die Argumente aus. Nicht nur, dass es in Sachen Energiesparen gar nicht mal soviel bringt, früher aufzustehen – klarer gesagt: eigentlich bringt es gar nichts. Nein, die Folgen des bundesweiten Minijetlags wirken sich insgesamt wohl eher negativ auf Energiebilanz und Bruttosozialprodukt aus, besonders aber auf die Volksgesundheit, wie die Mediziner zunehmend einhellig bestätigen.

Somit kostet die Zeitumstellerei sehr viel mehr, als sie positiv einbringt. Denn selbst reichliche Koffeingaben und Schmerzmittel können die – wie man mittlerweise weiß – teilweise andauernden Schlaf- und Wachstörungen jenes nicht zu geringen Bevölkerungsanteils, der nicht zu den Menschen mit vorverschobenem Tagesrhythmus zählt, nicht wirklich kompensieren. Dadurch sinkt die Leistungsfähigkeit, das Immunsystem wird geschwächt und selbst wenn man nicht gleich krank wird, so ist das nutzlos frühe Aufstehen doch nur lästig bis schmerzhaft und fleißigem oder gar aufgewecktem Arbeiten nicht wirklich zuträglich.

Doch es hilft nichts: Wie es aussieht, kommen wir auch dieses Jahr nicht um den Zeitdiebstahl herum. Änderung ist nicht in Sicht. Einerseits gibt es wahrscheinlich noch immer genug radikale Frühaufsteher, die der Bevölkerungsmehrheit ihre Bettflucht als notwendig weismachen können. Andererseits ist es aber eine typische Eigenschaft des modernen Menschen im Allgemeinen, dass er sich durch allerhand masochistische Selbstquälereien wie z. B. unnötig frühes Aufstehen sein Leben künstlich verkompliziert. Wie sonst ist auch zu erklären, dass er sich nicht nur hier sein Arbeitsleben oft viel eher als Spießrutenlauf arrangiert und nicht als Werk- und Lebensraum?

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Martin Dühning, geb. 1975, studierte Germanistik, kath. Theologie und Geschichte in Freiburg im Breisgau, arbeitet am Hochrhein-Gymnasium in Waldshut und ist Gründer, Herausgeber und Chefredakteur von Anastratin.de.