Fiktive Lexikalik: Der Irrwing

Schon seit vielen Jahren schwebt mir gedanklich ein Lexika-Projekt vor zu all den Dingen, die sich so erdacht haben in mir, doch fand ich keine Zeit und keine Kraft, dies auch niederzuschreiben. Dann und wann formuliert sich in meinem Geiste aber doch ein kleiner Lexikonartikel, so wie der, den ich jetzt schnell aufgeschrieben habe, bevor er wieder ins Land des Vergessens abgleitet:

Irrwing

Irrwing, der, pl. die Irrwing von jolantrisch „Trugflügel“ – Ein Irrwing ist eine durch magische Mittel herbeigeführte, mehr oder weniger lebensechte Objektrealisierung einer bereits verstorbenen Person, basierend auf der inneren Repräsentation des Verstorbenen im Gedächtnis von dessen noch lebenden Bekannten. Die mentalen Zustände (z. B. Erinnerungen und Gefühle) werden durch magische Mittel dabei nur verstärkt und nach außen projiziert. Dazu sind fortgeschrittene Fertigkeiten, wie z. B. telepathische Fähigkeiten, nicht nötig, solange nur Muster verstärkt werden.

Klassifikation

Der Irrwing zählt zu den Phantasmata (Trugbildzaubern) sowie den niederrangigen Illusionszaubern, die ansatzweise, teils auch versehentlich, von Laien herbeigeführt werden können, beispielsweise bei unsachgemäßen Gruppenexperimenten mit mentalen Kräften (z. B. in spiritistischen Sitzungen). Wie bei anderen Illusionszaubern wird hierbei keine Realität erschaffen, sondern nur simuliert – der Irrwing besitzt also kein eigenes, unabhängiges Bewusstsein, sondern ist eine gedächtniskorrelative Kommunikationssimulation. Dennoch kann der Irrwing in seiner materialisierten Erscheinung – besonders für die Getäuschten – äußerst lebensecht wirken, da er ihre vorhandenen bewussten wie unbewussten Erwartungen vollständig erfüllt – entspricht er doch ihren inneren Repräsentationen.

Die Täuschung lässt sich durch analytisches Vorgehen, z. B. gezielte Nachfragen an die Truggestalt gegen den Gesprächskontext, mehr oder weniger leicht aufdecken. Typischerweise löst dies den Zauber aber noch nicht gleich auf, da der Irrwing auf seine Entlarvung mangels Bewusstsein keine entsprechende Reaktion zeigt.

Man unterscheidet zwischen persistenten I. und temporären I. Während die Erschaffung eines persistenten (also dauerhaften) Irrwings deutlich aufwändiger ist und unzweifelhaft unter den Strafbestand (magischer) Betrug fällt, da hier mit einer selbsterhaltenden magischen Simulation eine andere Identität vorgetäuscht wird, ist die Einordnung des temporären Irrwings umstritten, er findet beispielsweise Anwendung bei der rekonzilliaren Abarbeitung von unfalltodbedingten Traumata, die Grenze zwischen temporärem Irrwing, Traummagie und psychogen herbeigeführten Suggestionen ist dabei fließend.

Beurteilung

Prominente Antimagier wie Tamen Elinod oder die nitramischen Templer lehnen das mutwillige Erschaffen von Irrwing grundsätzlich als nekromantisch ab und betrachten umgekehrt auch die biblische Totenbeschwörung in 1 Sam 28,7 als illusionsmagischen temporären Irrwing. An diesem Beispiel legt Elinod in seinem Grundlagenwerk Parma Vâla die negativen Folgen magischer Täuschungen dar: Der bedrängte israelitische König lässt die Totenbeschwörerin von Endor den Geist des verstorbenen Saul herbeirufen. Da der beschworene Totengeist des Propheten Samuel nur Tod vorhersehen kann (er ist, wenn man ihn als Irrwing deutet, ja nur die mentale Repräsentation der negativen Erfahrungen von Saul mit Samuel), wird der offene Blick des bedrohten Königs auf seine Lebenswirklichkeit getrübt, so gibt Saul alle Hoffnungen verloren und verspielt damit seine moralische Handlungsfreiheit, begeht schließlich Suizid.

Dagegen sprechen sich Universitätsmagier wie Vitruvin oder Celladin und auch viele magische Rechtsgelehrte in konkreten Einzelfällen für kontrollierte temporäre Irrwing aus und halten sie für zulässig, wenn somit ein nur therapeutischer Nachtodkontakt herbeigeführt wird, der ja auch durch rein psychologische Mittel zu erzielen wäre. Sowohl Befürworter als auch Gegner der Irrwing setzen oft in ihrer Argumentation Nachtodkontakte mit bloß verselbstständigten inneren Repräsentationen gleich, was von einigen Metaphysikern als unzureichende Vereinfachung des Phänomens „Nachtodkontakt“ abgelehnt wird.

Ähnliche Phänomene

Findet die Realisation der inneren Repräsentationen nicht in der Objektwelt selbst, sondern nur gedanklich oder in Form eines Traums statt, spricht man nicht von Irrwing, sondern von einem Traumgesicht.

Wird dagegen nur faktengestützte Objektrealisation durch technische Mittel bewerkstelligt, z. B. als computergestützte Holografie, spricht man stattdessen von einem HHP („historical holographic program“, d. h. historisches Hologramm).

Kein Irrwing sind auch echte Jenseitsbegegnungen, wobei es in der Praxis große Schwierigkeiten bereitet, diese vom Phänomen des Irrwing sicher zu unterscheiden. Im Unterschied zum Irrwing tritt bei einer echten Jenseitsbegegnung eine gegenwärtig eigentlich inexistente Person aus der Vergangenheit oder Zukunft in Kontakt mit Lebenden. Bei diesen kann es sich auch um Außenstehende handeln, welche die Person zuvor nicht kannten. Die Jenseitsbegegnung verfügt über ein vom Betrachter oder Medium unabhängiges Bewusstsein und erschließt in der Kommunikation neue Wirklichkeiten, die sich nicht nur aus vorhandenen mentalen Zuständen ableiten lassen. Die Kommunikation hat daher meist Offenbarungscharakter. Im Unterschied zum Irrwing kann durch analytisches Vorgehen wie z. B. Nachfragen keine Täuschung aufgedeckt werden, der Kommunikationpartner kann personal reagieren und im Zweifelfall die Kommunikation auch abbrechen. In den meisten Fällen kann allerdings ohne Zuhilfenahme von Antimagie nicht sicher geklärt werden, ob nicht doch ein fortgeschrittener persistenter Irrwing vorliegt.

Über Martin Dühning 1519 Artikel
Martin Dühning, geb. 1975, studierte Germanistik, kath. Theologie und Geschichte in Freiburg im Breisgau sowie Informatik in Konstanz, arbeitet als Lehrkraft am Hochrhein-Gymnasium in Waldshut und ist Gründer, Herausgeber und Chefredakteur von Anastratin.de.