Jeder Tag ist ein kleines Leben

Aus dem Leben einer Botschafterin, Teil 12

Flower Faery (Grafik: Martin Dühning)
Blumenelfe (Grafik: Martin Dühning)

Es war zu der Zeit, als Thassi noch klein war, aber schon groß genug, um tüchtig zu quengeln und Mutter Luisa hatte große Probleme, ihre wichtige Arbeit als Botschafterin, die Bedürfnisse ihrer kleinen Tochter und auch noch ihre eigenen unter einen Hut zu bringen. Einen solchen, vorzugsweise einen Sonnenhut, trug sie jetzt häufiger, denn sie merkte, dass sie älter wurde, ihre Haare waren nicht mehr so flauschig wie in ihrer Zeit als junge Zwergfee, sie wurden weniger und matter. Und Luisa bedauerte sich oft lange im Spiegel dafür, dass sie nur noch so wenig Zeit für sich selbst hatte, denn ihre Aufgabe als Botschafterin war sehr wichtig und ihre geliebte Tochter natürlich auch.

„Wie du auch wohnst!“, meinte ihre Freundin Una Niva, als wieder einmal bei Luisa zum Tee vorbeikam: „Ein Grauton jagt hier in eurer Wohnung den nächsten, draußen ist alles kahl, nur öde Wiese und Nebelmeer, keine Bäume, keine Büsche, nicht mal Blumen, kein Wunder, dass du so ganz trübsinnig wirst!“ – und Una Niva empfahl Luisa die zauberhafte Blumenhandlung eines befreundeten Gartenzwergs, der ganz wundervolle, ja magische Pflanzen im Angebot hätte. Luisa, nicht eben eine fleißige Gärtnerin, blieb skeptisch, als sie aber ihre völlig gelangweilte Tochter sah, die nicht einmal ein Gänseblümchen umarmen konnte auf den leeren Rasenhügeln der Insel Mondia, nahm sie dann doch das bisschen Zeit, das sie sich eben grade nehmen konnte und machte sich auf den Weg zum Gartenzwerg.

Der Gartenzwerg bewohnte einen großen Fliegenpilz im Sonnenblumenland nördlich von Alexandretta, um den Pilz wucherte seine Gärtnerei, eine kleine Gartenanlage, die sich inmitten der Sonnenblumenwälder erstreckte mit kleinen Blumenbeeten und Glashäuschen. Es war wirklich zauberhaft. Gerne hätte der kleine Wicht gemütlich mit Luisa geplaudert, aber die hatte kaum Zeit, wie sie immer wieder betonte. Und das, ließ sie ihn wissen, sei immer so, denn sie sei eine vielbeschäftigte und wichtige Diplomatin aus Emolas. Der Gartenzwerg meinte etwas mürrisch, dass Gartenbau aber eben Liebe und Geduld erfordere. So ganz ohne Zeit und Mühe sei ein schöner Garten nicht zu bekommen, auch kein Kinderspielgarten für kleine Zwergfeentöchter. Doch Luisa ließ sich nicht davon beeindrucken. Der Zwerg zeigte ihr zunächst einige anspruchslose, aber langweilige Nadelgehölze, die Luisa aber nicht überzeugten, ebenso wenig wie die pflegeleichten Wildrosen oder Sanddornbüsche. Sie wolle bunte, zauberhafte Blumen für ihre Tochter, am besten solche, die völlig ohne großes Zutun, quasi über Nacht, erblühten.

Nun, meinte der Gartenzwerg etwas nachdenklich, er habe da tatsächlich eine spezielle Sorte Amaryllis, eine wahrhaft zauberhafte Blume, die man weder gießen noch groß pflegen müsse. Aber, so warnte er, diese ganz besonderen Blumen seien nicht gerade billig und man sollte sie niemals einzeln pflanzen. Luisa schrak zusammen, als sie den stolzen Preis erfuhr: 70 Silberdenare wollte der Zwerg pro Blumenzwiebel haben. Für die Botschafterin waren das sieben Monatsgehälter. Der Zwerg blieb auch hartnäckig und ließ sich beim Preis nicht runterhandeln. Ja, dass er überhaupt eine einzelne Zwiebel hergab, statt ein Pack, forderte von Luisa ihr ganzes diplomatisches Geschick und er rückte die Zwiebel dann nur sehr unwillig heraus. Die Blumen seien wirklich nicht zur Einzelpflanzung gedacht, warnte der Zwerg Luisa ein letztes Mal.

Die Zwiebel der jolantrischen Amaryllis-Blume schillerte geheimnisvoll in mystischen Farben, wie ein Spektrolyth, sie war sehr groß und wog schwer, sodass Luisa sie auf einen extra Lastkahn packen musste, um sie zur Insel Mondia zu verschiffen, und einige Nationalgardisten, die sie sich von Vizekönig Valens Palladorian dafür auslieh, halfen ihr beim Eingraben neben ihrer Villa. Dazu brauchten sie einen kleinen Bagger.

Zwergfeetochter Thassi schaute neugierig und begeistert zu und hüpfte aufgeregt zwischen den fremden Leuten herum. Mama hatte ihr gesagt, dass es eine zauberhafte und wunderbare Blume sein würde, die fast so groß wie das Haus wachsen würde, wie ein riesiger, wunderbarer Baum. Und als die Erde zugeschüttet war, setzte sich Thassi noch bis zum Abend daneben und wartete ungeduldig, ob vielleicht jetzt schon eine kleine Knospe sprießen würde. Aber so schnell ging es dann doch nicht, und Luisa brachte Thassi abends ins Bett, wo die ganz aufgeregt einschlief, um morgen ganz früh wach zu sein. Vielleicht wäre dann ja schon ein Keimling zu sehen? Luisa bettete ihre Tochter mit einem herzlichen Gutenachtkuss, erzählte ihr eine emolanische Gutenachtgeschichte, arbeitete dann selbst noch lange für eine wichtige Rede, die sie am nächsten Tag halten wollte, ein bedeutsamer Termin – und spätabends stand sie dann wieder am Spiegel und trauerte ihrer jugendlichen Frisur nach, bevor sie nachts in Bett schlich, wo Luisa müde und schlecht einschlief.

Thassi wurde tatsächlich mit dem ersten Amselsang wach und hüpfte erwartungsvoll ans Fenster: Begeisterung sprühte aus ihren Augen, als sie in den Garten sah: Die Wunderblume war über Nacht tatsächlich gekeimt und geradezu gewaltig gewachsen, mehr als haushoch erhob sie sich neben der Villa Mondia und ihre Spitze wurde gekrönt mit einer gigantischen, noch verschlossenen, schneeweißen Blütenknospe.

„Mama! Mama! Die Blume ist da! Toll! Toll! Komm! Sie blüht gleich!“, schrie Thassi aufgeregt und tobte wie ein Wirbelwind durchs ganze Haus. Mama Luisa wollte es zuerst nicht glauben, konnte es dann aber selbst bestaunen: Tatsächlich war diese Riesenamaryllis über Nacht zu fast voller Blüte emporgeschossen, hoch wie ein Leuchtturm und prächtiger als alle Blumen, die Luisa bis dahin zu Gesicht bekommen hatte. Es war wirklich ein kleines Wunder – nein, ein großes!

„Mama, Mama, du musst bleiben, bis sie richtig blüht!“, rief Thassi und zupfte an Luisas grünem Feenkleid herum. Ja, diese Blume war wirklich etwas besonderes und vielleicht sogar die 70 Silbertaler wert, die der Wucherzwerg dafür verlangt hatte. Aber Botschafterin Luisa hatte heute einen wichtigen Termin. Die Blume würde sicher auch noch im Abendrot prunken, wenn die Diplomatin ihre mühsam verfasste Rede vor den Bürgern von Alexandretta gehalten und einige Handelsverträge für Emolas ausgehandelt hätte.

„Nein, nein! Mama, du musst bleiben!“, quengelte Thassi. Aber die Mama erklärte ihr, wie wichtig ihre Arbeit war, sie ließ sich nicht erbarmen zu bleiben, und so musste Thassi ihre Mutter Luisa ziehen lassen. Sie sei ja in einigen Stunden zurück, versprach ihr Luisa.

Also beschloss Thassi, die Wunderblume so lange für die Mama zu bewachen! Sie setzte sich auf die Treppe der Veranda, schaukelte aufgeregt mit den Beinchen auf den Treppenstufen herum, lief immer wieder zur Riesenamaryllis hin, bestaunte und streichelte ihren dicken grünen Stamm, der so stark und breit war, dass ihn weder Thassi noch Luisa hätten umfassen können. Um 11 Uhr morgens schließlich öffnete sich oben die Blüte und Thassi hüpfte lachend unten um den Stamm herum. Dann hielt es die kleine Zwergfee vor Neugierde nicht mehr aus und sie flügelte hoch mit ihren kleinen Feenflügelchen, mitten hinein in den großen Blütenkelch, der innen golden und licht schillerte, wie Seide in der Sommersonne. Wie Perlen netzten Tau und Nektar die Kelchblätter, was Thassi aber am Boden der Blüte vorfand, das erstaunte sie noch viel mehr:

Am Boden der Blüte lag und schlummerte, wie ein süßes Baby, ein kleines Elfenkind. Thassi war völlig hin und weg: In der Wunderblume war eine kleine Freundin für sie. Und sie lachte und klatschte in ihre kleinen Händchen und streichelte die kleine Blumenelfe, die dort zusammengekauert schlummerte. Da erwachte sie, lachte mit goldenen kleinen Augen Thassi an, hielt mit ihr Händchen und die beiden beschauten sich eine Weile glücklich und liebevoll. Thassi konnte nicht anders, sie begann ein frohes Lied zu summen – und die Elfe summte mit. Es war so schön, fast wie ein Traum.

„Wer bist du?“, fragte die kleine Elfe ganz unvermittelt Thassi.

„Ich bin Thassi!“, strahlte diese und streichelte ihre neue kleine Freundin.

„Wo bin ich?“, fragte die Elfe weiter.

„Du bist hier!“, lachte Thassi sie an.

„Hier ist es schön!“, lachte die Elfe zurück. Dann bemerkte die Elfe, dass sie kleine Arme und Beinchen hatte und außerdem, wie bei Blumenelfchen üblich, kleine Flügel, und sie stand auf, zuerst etwas unsicher auf dem weichen, goldenen Blütenboden, dann reckte und streckte sie sich und begann mit ihren Flügelchen zu surren. Thassi war begeistert und flügelte mit. Und als die kleine Elfe sah, wie das Fliegen geht, machte sie es Thassi nach und die beiden übten erst kleine Hüpfer, schließlich höher Luftsprünge und schließlich trauten sich beide hinaus aus der Amaryllisblüte, weit in den blauen Mittagshimmel hinein. Sie flogen einmal in die Höhe, um die riesige Blüte herum, dann um die ganze kleine Insel und schließlich schwebten dann beide sanft auf das Dach von Luisas Villa herab.

„Hier ist es wunderschön!“, strahlte die kleine Elfe Thassi an und trällerte ein hübsches Lied mit ihrer kindlichen Glockenstimme.

„Ja“, lachte Thassi: „Hier wohnen wir. Das ist unser Haus! Und die Blume da ist dein zuhause!“

„Ja, so ist es wohl“, lachte die kleine Elfe. „Lass uns was spielen!“, stubste sie Thassi an, und weil Thassi das besonders liebte, spielten die beiden Verstecken und sie hatten einen riesen Spaß dabei. Soviel Spaß, dass sie gar nicht bemerkten, dass es schon längst Nachmittag war.

„Das war schön, aber ich habe jetzt Hunger“, meinte die Elfe später zu Thassi. „Ja, ich auch“, antwortete Thassi. „Warte, Mama hat mir ein Vesper gemacht, das reicht sicher für uns beide!“, jauchzte sie und hüpfte in die Küche, von wo sie mit Honigkuchen zurückkam.

„Das schmeckt toll!“, lobte die Elfe die süßen Kuchen und verschlang einen nach dem anderen. „Deine Mama ist wirklich gut!“.

„Ja, Mama ist toll!“, lachte Thassi, „Aber die Kuchen hat uns Tante Una mitgebracht. Tante Una ist auch ganz toll.“

„Du kennst viele tolle Leute!“, meinte die Elfe. „Schade, dass sie nicht hier sind, ich würde sie gerne kennenlernen!“

„Das wollen die bestimmt auch! Mama wird sich freuen, wenn sie dich sieht! Sie kommt heute Abend zurück! Du wirst sie bestimmt mögen! Und Tante Una können wir dann gleich morgen besuchen!“, freute sich Thassi.

„Ja, das machen wir!“, freute sich auch die Elfe und verputzte hungrig den letzten Kuchen – sodass Thassi fast zu wenig übriggeblieben war. „Das war toll, du bist wirklich eine super Freundin!“, strahlte die Elfe und drückte Thassi fest an sich: „Lass uns beste Freundinnen werden!“

Und so wurden Thassi und die Elfe Amaryllis die besten Freundinnen.

Nach dem Essen wollte Amaryllis wieder mit Thassi spielen, aber nicht mehr Verstecken. „Lass uns was anderes spielen! Was kennst du noch, Thassi?“, forderte sie ihre beste Freundin auf.

„Wir können Ball spielen!“, strahlte Thassi, und eilte in ihr Kinderzimmer, um von dort ihren kleinen goldenen Gummiball zu holen. Damit spielten sie dann zusammen im Garten Ballwerfen. Zunächst war Thassi besser, aber die Elfe lernte schnell, nach einer Stunde war sie viel schneller und wendiger als Thassi und als sie sah, dass die kleine Thassi kaum noch hinterher kam, legte sie ihre sanfte Hand über ihre Schulter und sagte wie zum Trost: „Lass gut sein, Thassi, ich denke, wir haben jetzt erst mal genug gespielt. Lass uns zusammen abhängen, so wie gute Freundinnen das miteinander tun.“

„Ok“, sagte Thassi und blickte freundlich zu ihrer besten Freundin hoch. Erst jetzt bemerkte sie, wie groß, schön und grazil die Elfe war. Sie hatte filigrane, liebliche Ärmchen und Beinchen, einen schlanken Körper und ein wunderschönes Gesicht mit kleinen, goldenen Augen und hübschen roten Lippen. Von ihrem Kopf quollen seidige, goldene Locken. Die beiden setzten sich auf den Hügel hinter der Villa und betrachteten den blauen Himmel und die Wolken.

„Was willst du machen, wenn du mal groß bist?“, fragte die Elfe ihre kleine Freundin. Thassi wusste es nicht. Sie war noch ziemlich klein und hatte sich über das Erwachsenenleben noch keine Gedanken gemacht. „Ich weiß es nicht“, antwortete sie wahrheitsgemäß. „Ich möchte wie Mama sein und viele Freunde haben, so wie dich.“

„Ja, Freunde sind wichtig. Wie stellst du dir deinen Traumfreund vor?“, wollte die Elfe von Thassi wissen. „Ich weiß nicht“, antwortete Thassi, „Was denkst du?“

„Ach“, schwärmte die Elfe, „er sollte lustig sein, mit schönen Augen und Sommersprossen, vielleicht ein bisschen kräftig, aber kein Angeber – ein echt netter Typ, vielleicht ein Abenteurer oder sogar ein Prinz“, seufzte sie romantisch.

„Dann will ich auch so einen Freund“, meinte Thassi etwas ratlos. Sie hatte sich über solche Sachen noch nie Gedanken gemacht. Aber inzwischen hatte sie sich etwas anderes überlegt: „Ich weiß jetzt, was ich mal werden will, wenn ich groß bin!“, sagte sie zur Elfe entschlossen.

Da richtete sich die Elfe auf und nahm Thassis kleine Händchen, schaute sie aufmerksam an und sagte: „Verrate es mir, Thassi, das ist dann unser großes Geheimnis. Ich werde es für mich behalten, wie eine beste Freundin das tut.

„Ich will mal eine große Zauberin werden“, strahlte die kleine Thassi die Elfe an.

„Das ist ein schöner Wunsch“, sagte die Elfe geheimnisvoll, drückte sie fest an sich und gab ihr einen Kuss. Dann stand sie auf, ließ Thassi stehen und wanderte gedankenverloren zum Strand.

Thassi war erst sprachlos und verwundert, aber dann hüpfte sie der Elfe einfach nach, die saß inzwischen am Strand, nah am Wasser, und schaute melancholisch den Wogen zu.

„Warum glaubst du, sind wir da, Thassi?“, fragte sie die Elfe ernst und ein Schatten huschte ihr dabei über das Gesicht.

„Wir sind da, weil wir da sind und damit wir Spaß haben!“, antwortete Thassi: „Lass uns wieder zusammen spielen! Spielen wir wieder Verstecken!“

Aber die Elfe wollte nicht mehr mit Thassi Verstecken spielen. Das hätten sie doch schon so lange gemacht, und ihr sei das auf Dauer zu kindisch. Also spielten die beiden wieder Ball, aber gegen die gewandte Elfe kam Thassi kaum noch an und es machte Thassi so gar keinen Spaß.

„Tut mir leid, Thassi“, tröstete sie die Elfe mütterlich, „Lass uns was anderes zusammen machen, wozu hast du Lust?“

„Wir können schaukeln!“, meine Thassi und deutete auf die Veranda, wo Luisa ihr eine Kinderschaukel aufgehängt hatte. Thassi schaukelte der Elfe vor, aber die kleine Kinderschaukel war für die Elfe zu eng, und so begnügte sich Amaryllis, die kleine Thassi anzuschubsten. Die hatte viel Spaß, aber mit der Zeit wurde die Elfe immer stiller und irgendwie traurig.

„Meinst du, dass ich noch mal irgendwann einen Freund fürs Leben finde?“, fragte die Elfe Thassi mit wehmütiger Stimme.

„Aber ich bin doch deine beste Freundin!“, protestierte Thassi ganz überrascht.

„Nein, so meine ich das nicht. Einen Freund fürs Leben, so einen zum Heiraten!“, klagte die Elfe.

„Aber klar doch!“, prustete Thassi. „Du wirst sicher einen kennenlernen, in ein paar Jahren, du wirst schon sehen! Aber erst gehen wir zusammen zur Schule, machen Reisen mit Mama und erleben viele Abenteuer!“, malte sich Thassi ihre gemeinsame Zukunft aus.

„Meinst du?“, fragte die Elfe traurig, „Ich weiß nicht“, fügte sie bitter hinzu.

„Ganz sicher“, sagte Thassi und merkte nun, dass ihre Freundin ernst und traurig aussah. Und nun war es Thassi, die sich der Elfe auf den Schoß setzte, sie streichelte und ihr einen Kuss gab: „Du bist meine beste Freundin!“, versprach Thassi, „Und wir machen ab jetzt alles zusammen.“

„Lass uns den Sonnenuntergang betrachten“, sagte die Elfe müde und streichelte Thassi über ihre Wange. „Ich hätte so gerne getanzt und gefeiert und andere Elfen kennengelernt“, wimmerte sie.

„Aber das kannst du doch noch!“, sagte Thassi trotzig. „Wir fragen Mama einfach, wo es noch welche gibt, und dann gehen wir morgen dorthin! Und wenn du magst, kannst du sie ab dann jeden Tag sehen. Und vielleicht ist auch dein Traumfreund dabei!“, tröstete Thassi ihre Freundin.

Doch die Elfe sah fahl und eingefallen aus, ihre Haare wogten struppig und silbern im Abendwind.

„Ich bin so müde, Thassi“, sagte sie leise, als die Sonne im Meer von Ninda verschwand. „Ich muss jetzt erst mal schlafen.“

Da wurde Thassi besorgt um ihre Freundin, denn sie sah auch irgendwie nicht gut aus: „Ja, das war heute vielleicht alles zuviel für dich!“, beeilte sie sich: „Du musste dich ausruhen, dann bist du morgen wieder fit!“, und sie half ihrer ermatteten Freundin auf und sie schritten ganz langsam zu der Blüte, aber so kraftlos wie die Elfe war, würden sie es wohl nicht mehr hinauf zur Blütenspitze schaffen, denn die Elfenflügel hingen schlaff an ihr hinab.

„Du kannst doch auch bei uns drinnen schlafen!“, schlug Thassi vor, aber ihre Freundin legte sich schon zu den Füßen der Riesenblume hin. Sie war so müde, dass sie nur noch „Gute Nacht, Thassi, du bist sehr lieb!“, herausbrachte, und „Du wirst sicher mal eine große Zauberin werden.“ Dann schloss sie ihre goldenen Äuglein und schlummerte fort.

Thassi machte das nun Angst. Ihre Freundin würde sich dort unter der Blume noch erkälten, und sie rannte ins Haus und holte ihr ganzes flauschiges Bettzeug und ihre Kissen und bettete um die Elfe ein königliches, warmes Ruhepolster. Sie küsste ihr einen Gutenachtkuss auf ihre kalte Stirn und drückte ihr ihre Händchen und erzählte ihr die Gutenachtgeschichte vom Tatzelwurm. Aber die Elfe atmete kaum noch. Da weinte Thassi und lief ängstlich zur Veranda, wo sie dann sorgenvoll noch eine Stunde auf ihre Mama wartete, bis sie selbst dort einschlief.

Luisa Amiratu hatte einen sehr stressigen Tag gehabt. Ihre Rede war geglückt, aber mit den Handelsverträgen hatte es länger gedauert und so kehrte sie erst viel später heim, als geplant. Sie war ziemlich gestresst. Von Ferne sah sie im Dämmerlicht die Riesenblume, deren Blütenblätter aber inzwischen verblüht waren. Auf der Verandatreppe fand Luisa eine zusammengekauert schlafende Thassi vor, die aber sofort hellwach wurde und ihrer Mutter von einer neuen Freundin erzählte, mit der sie den ganzen Tag gespielt habe und die dann aber krank geworden und unter der Blume eingeschlafen sei. Also zündete Luisa eine Laterne von der Veranda an und nahm sie und Thassi mit zum Blütenstumpf. Dort fanden die beiden aber nur Thassis Bettzeug, Sofakissen und verdorrte alte Blütenblätter vor, die der Nachtwind bereits größtenteils fortgeweht hatte. Von oben wehte ein kalter Zug auf sie herab, so als wäre es bereits Herbst.

Da wurde es Luisa ganz anders zumute und sie nahm Thassi schnell in ihre warme Wohnung hinein, machte dort überall Licht, verschloss die Türen und ließ die Fensterläden herab. Und noch bevor Thassi am nächsten Morgen aufwachte, ließ Luisa in aller Frühe von Nationalgardisten die Reste der verdorrten Amaryllis entfernen, eine Blume, die Luisa seither nicht mehr ausstehen konnte.

Für ihr eigenes Leben aber nahm sich Luisa Amiratu vor, die Prioritäten künftig anders zu setzen und jeden Tag ganz bewusst zu Leben – mit ihrer Tochter und ihren Freunden. Denn jeder Tag ist ein kleines Leben, und die Stunden, die wir nicht miteinander nutzen, sind fort und kehren niemals wieder. Und wenn unser Tag erst einmal vorüber ist, dann ist es zu spät.

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Martin Dühning, geb. 1975, studierte Germanistik, kath. Theologie und Geschichte in Freiburg im Breisgau, arbeitet am Hochrhein-Gymnasium in Waldshut und ist Gründer, Herausgeber und Chefredakteur von Anastratin.de.