Lachen ist ungesund

Ausschnitt aus dem Romanfragment „Tagebuch eines Selbstmörders – das kurze Leben des Roderick T.“, verfasst anno 1993 in einigen Freistunden im alten Computerraum des KGT, heute Raum 305:

Als ich eines Morgens wieder einmal einen Spaziergang machte, traf ich, auf einem dieser öffentlichen Orgienplätze und von einer Horde von Biergläsern umzingelt, den mir zutiefst verhassten und völlig übernächtigten Herrn H. … Da ich gerade nichts Besseres zu tun hatte, beschloss ich, die günstige Gelegenheit zu nutzen, ihm gegenüber den Sadisten zu spielen, um ihm den Alkoholgenuss ein für alle mal zu verleiden.

Ich betrat also den Schauplatz tiefster Erniedrigung, stieg über die gewaltigen Hindernisse, die die am Boden liegenden Sterbenden darstellten und setzte mich auf die Herrn H.s Tisch gegenüberliegende Bank. Nachdem ich ihn eine Zeit lang mit meinen Blicken gemartert hatte und er sich davon schon wieder zu erholen im Begriffe war, kam mir die Idee, seinem Gesundheitszustand mit Hilfe einer vollkommen unnützen und lästigen Konversation einen Schlag zu versetzen. Hierzu ergriff ich eine alte, zerfledderte Morgenzeitung, welche vor mir auf dem Tische ruhte, schlug eine zufällige Seite auf und begann laut und deutlich zu lesen. Herr H., der sich einen Sinn der Aktion vor lauter Schmerzen nicht denken konnte, betrachtete dies, sichtlich unter den Folgen des übermäßigen Genusses des Vorabends leidend, mit größtem Argwohn.

„FRAU LACHT SICH IN DEN STRASSENGRABEN …“, lautete die Überschrift. Herr H. war zu meiner innigsten Freude durch diese Worte schon so entkräftet, dass er ächzend, im Gefolge einiger Bierkrüge, unter den Tisch sank und sich nur mit größter Mühe wieder hochzuholen vermochte. „FRAU LACHT SICH IN DEN STRASSENGRABEN. dpa. … Am getrigen Morgen ereignete sich in Obergodifingen ein Unfall der besonderen Art. Hierbei sind nicht der Unfallhergang, sondern eher die Unfallursache verwunderlich. Die Polizei fischte gestern Nachmittag eine 21jährige Frau aus dem neben der B256 gelegenen Winkelgraben … der Sachschaden am Auto und an der Frau war nur geringfügig … Nach Angaben der Frau habe sie derartig über einen im Radio gehörten Witz lachen müssen, dass sie einen Krampf bekommen habe und von der Straße abgekommen sei … Nach weiteren Angaben der Polizei war die Frau aber völlig nüchtern …“

„Oh!“, stöhnte Herr H. „Bitte lesen Sie nicht weiter.“ Er hätte Kopfweh und Gliederschmerzen und schlafen sei die beste Medizin … und überhaupt habe er die ganze Zeitung schon gelesen. Ich ließ mich aber nicht davon abbringen und las unbeirrbar laut und deutlich den Artikel zuende. Danach fing ich an unglaublich auf ihn einzureden, bis er die mir unerklärliche Kraft zusammenriss und selbst das Wort ergriff:

Er sei davon überzeugt, dass es mit diesem Artikel völlig seine Richtigkeit habe; ja, es gebe nichts schlimmeres als die Freude, denn immer, wenn er sich freue, so müsse er am nächsten Tag tiefste Erniedrigung und das übelste Leid erdulden – was ich mir durchaus erklären konnte – ja überhaupt gäbe es nichts grauenhafteres als das Lachen. Er glaube zu wissen, behauptete er,  dass wohl nicht der Apfel, sondern das Lachen den Menschen aus dem Paradies getrieben habe … Er sei schon immer gegen alles Überschwängliche und Freudige gewesen und, wenn überhaupt, so könne nur die Vernunft aus dem Menschen etwas machen. Er machte dabei einen so ernsthaften Eindruck, dass ich Mühe hatte, das Lachen zurückzuhalten und ich erwiderte nun, als ich merkte, dass er mit seinem Prolog am Ende war, dass ich mir nicht vorstellen könne, was er eigentlich mit ‚Vernunft‘ meine.

‚Vernunft‘, erklärte er mir völlig entnervt, sei die Fähigkeit zur Entscheidungsfreiheit und zur Selbstkontrolle und übrigens die einzige Möglichkeit, die Gesellschaft aus dem Sumpf der Verstrickung zu befreien. Da er sich mit solcher Sicherheit äußerte, fing ich an mich für diese seltsam anmutenden Thesen zu interessieren. „Glauben Sie wirklich, eine Gesellschaft könne ohne das Lachen und regelmäßige Aufheiterungen auskommen?“ Herr H. kühlte sein Antlitz an einem Bierglas. „Selbstverständlich“, meinte er, es gebe tausend Beweise für diese Behauptung. „Nehmen Sie doch mal die A…, wie froh wären die, wenn alle ihre Kunden zu vorsichtig und vernünftig wären und sie somit nicht fortwährend gezwungen wären, für die Folgen ihres Überschwangs aufzukommen.“ Auf dieses „Beispiel“ vermerkte ich, dass er für die Unzulänglichkeiten der Welt doch nicht allein die Freude verantwortlich machen könne.

Er tue dies mitnichten, verteidigte er sich. Er bekämpfe die Freude nicht, um die Unzulänglichkeiten der Welt zu beseitigen, sondern vielmehr, um den Irrglauben der Welt zu tilgen, die Freude beuge dem Leide vor. Im Gegenteil stürze die Freude die humanoide Seele in tiefste Verdarbnis.

Ich konnte diese Paradoxien, die mit allen konventionellen philosophischen Richtungen in Dissonanz standen, nicht länger ertragen und machte ihm klar, dass doch alle seine Behauptungen völlig aus der Luft gegriffen seien und mit der Wirklichkeit nicht in Verbindung zu bringen wären. Darauf wurde der ohnehin schon missgestimmte Herr H. sehr zornig und aufgebracht. Rasend und vor Wut schäumend legte er Beweise für seine derzeitige Weltanschauung dar: Sicherlich habe ich schon von dem genialen und berühmten Opernsänger R., einem kürzlich verstorbenen Idol ganzer Nationen gehört, fing er an; wie er aus einer zufällig aufgegriffenen Fachlektüre zu erfahren die Gnade gehabt habe sei dieser nicht – wie öffentlich kundgetan – an einem Schlagflusse verschieden, sondern habe vielmehr durch einen grausigen Unfall das Zeitliche gesegnet … Jener R., der, wie alle Italiener, zu Lebzeiten ein freudiger und lustiger Geselle gewesen, – ihm sei gerade diese Lebensfreude zum Verhängnis geworden.

Um diesen Sachverhalt genauer zu verstehen, müsse man natürlich die innere Natur und den Körperbau eines Sängers genauer betrachten. Es wäre nämlich, um der Sangeskunst fähig zu sein, für eine Sänger dringend von Nöten, über ein stark trainiertes und ausgebildetes Zwerchfell zu verfügen, über jenen Muskel, welcher Herz und Lunge von den übrigen Eingeweiden trenne und mit dessen Hilfe man mit der sogenannten ‚Atemstütze‘ nur der Arien Töne zu halten befähigt sei. Bei R. sei dieser Muskel besonders ausgeprägt gewesen.

Zu seinem größten Unglücke sei es aber auch gerade jener Muskel, der bei herzhaftem Lachen kontrahiere. So sei es geschehen, als R. an einem späten Abende, nach einer seiner Opernvorstellungen bei einem Glase Chianti und mit einem Freunde beisammen saß, dass dieser, aus welchem schicksalsträchtigen Grunde auch immer, auf die unglückselige Idee gekommen sei, eine Anekdote zu erzählten. Kaum habe er seine Erzählung beendet, habe R. heftig angefangen zu lachen; etwas zu heftig, wie sich herausgestellt habe, denn sei Zwerchfell sei so heftig kontrahiert, dass sich der Muskel aus seiner Verankerung gelöst habe, die Eingeweide herausgequollen seien und er Blut zu spucken begonnen habe. Obwohl er sofort in ein Hospital gebracht worden sei, sei jede Hilfe zu spät gekommen und nach drei Stunden schlimmster Qualen sei er von seinem Leiden erlöst worden. Sein Freund aber, der dies alles mit vollem Bewusstsein erlebt habe, hätte in eine Nervenheilanstalt eingewiesen werden müssen, wo er heute noch mit schwersten psychischen Störungen lebe.

„Sie sehen also“, endete er „dass das, was als Aufheiterung gedacht war, in schlimmstem Leide endigen musste, weil die Vernunft des Vergnügens wegen geopfert wurde. Glauben Sie mir jetzt?“, zwinkerte er mir zu.

„Nein“, antwortete ich, „eine solch absurde Geschichte würde ich niemandem glauben, und Ihnen schon gar nicht!“, und verließ erbost darüber, dass es ihm immer besser zu gehen schien, unverzüglich und ohne ein Wort des Abschiedes den Ort, an dem Herr H. schon wieder auf seiner Bank niedersank. Und ich beschloss, in Zukunft von derartigen moralischen Kreuzzugsunternehmungen abzulassen.

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Martin Dühning, geb. 1975, studierte Germanistik, kath. Theologie und Geschichte in Freiburg im Breisgau, arbeitet am Hochrhein-Gymnasium in Waldshut und ist Gründer, Herausgeber und Chefredakteur von Anastratin.de.