Wohin die kleinen Boote treiben…

Grannenmeer

Es war einmal vor langer Zeit, da lebten in den Appalachen ein alter Vater und sein kleiner Sohn. Der Vater war noch mit weit über 40 Jahren aus dem Pommernland über Hamburg nach Amerika ausgewandert, hatte gleich in Boston eine hübsche junge Frau kennengelernt und sich Hals über Kopf in sie verliebt. Die beiden hatten bald geheiratet und ein paar glückliche Monate verbracht, bis die junge Frau bei der Geburt ihres ersten Sohnes verstarb. Das verbitterte den Mann, der seine Stelle als Zimmermann aufgab und nun mit einfachen Holzschnitzarbeiten sein Brot verdiente (er arbeitete Tag und manche Nacht). So lebte er, abseits von der Welt, ganz allein mit seinem kleinen Sohn in den Bergen an einem Fluss.

Der kleine junge war recht aufgeweckt, langweilte sich aber oft, so allein wie er war. Er gab allen Waschbären, Vögeln und auch einigen der Fische im Fluss einen Namen, dann auch den Rehen, die er alle jeden morgen lautstark begrüßte, bis es dem Vater irgendwann zu bunt wurde und er ihn lehrte, stattdessen kleine Holzspielzeuge zu bauen. Besonders angetan war der kleine Sohn vom Bötchenbau. Er baute sehr viele kleine Schiffchen aus Rindenstückchen, Holzspänen, sogar aus Nussschalen, in allen möglichen Formen, die er dann schwimmen ließ und dabei schaute er ihnen oft lange zu, wie sie den Fluss hinuntertrieben.

„Wohin schwimmen meine Boote?“ fragte der kleine junge eines Tages den Vater. „Das weiß ich nicht und es ist auch egal, es sind ja nur Spielzeuge“, war die Antwort des Vaters. Der Junge blickte den Vater fragend an und ging dann fort. Nach einer Woche kam der Junge wieder und stellte die gleiche Frage:  „Vater, wohin treiben meine Boote eigentlich, wenn ich sie schwimmen lasse?“. „Das weiß ich nicht, gibt da so ein Kinderlied, weiß aber nicht mehr, wie es ging. Es ist auch nicht wichtig!“ Der Junge sah seinem Vater einige Minuten bei der Arbeit zu, dann ging er wieder und baute fleißig weiter kleine Boote, die er alle im Fluss schwimmen ließ.

Der Sommer zog hin, dann kam der Herbst, der Winter und zuletzt der Frühling und eines Tages kam der kleine Junge noch einmal zu seinem Vater und fragte ihn eindringlich: „Vater, wenn ich die von mir gebauten Boote im Fluss hinunter schwimmen lassen, wohin treiben sie dann? Wohin?“

Der Vater seufzte entnervt, als er bemerkte, dass er den Kleinen sonst nicht los würde, holte er tief Luft und erzählte dann eine Geschichte:

„Es war einmal der König der Meerjungfrauen, der Meerkönig. Er war groß, größer als ein Walross, er war unglaublich mächtig, ja er gebot über die sieben Weltmeere von der Ostsee bis zum Atlantik und sogar noch bis hinüber zum Pazifik. Er hatte sieben schöne Töchter, das waren die Meerprinzessinnen. Eine war schöner als die andere. Doch fand er keine Prinzen, die um sie freiten, denn unter dem Meer gab es nur Meerjungfrauen, keine Meermänner, nur Haifische, und die mochte er nicht als Schwiegersöhne haben. Da ließ er über seine Herolde, die Delphine, überall in den Ozeanen und bis an die Küsten verlauten: Wer eine meiner Töchter freien und mir ein angemessenes Geschenk bringt, der soll sie heiraten dürfen, über ihren Ozean gebieten und in ewiger Jugend leben. Daraufhin machte sich so mancher junge Abenteurer auf den Weg zum Muschelpalast. Sie brachten alle möglichen Geschenke, ja sogar Prinzen waren dabei, die Gold, Myrrhe und Weihrauch brachten, aber der Meerkönig war an so etwas nicht interessiert. Immer lehnte er ab und gab den Freiern zur Antwort: ‚Das mag ich nicht, du bist meine Töchter nicht wert!‘ und ersäufte dann den Unglücklichen. Denn der Meerkönig und die seinen lieben nur das Meer und sind allein darin in ihrem Element. Nur wer für das Wasser gebaut ist, wäre ein würdiger Freier oder jemand, der für das Wasser baut. Und weil deine kleinen Boote das spüren, zieht es sie magisch den Fluss hinunter zum Ozean, wo sie zum Palast des Meerkönigs schwimmen, eines nach dem anderen. ENDE.“

Der Vater sah den kleinen Jungen mit tiefem Blick an: „So, bist du nun zufrieden, Sohn?“ Der Junge nickte. „Dann lass mich jetzt weiter arbeiten, sonst haben wir bald nichts mehr zum Abendessen.“ Der kleine Junge ging weg, baute weiterhin seine kleine Boote, die mit den Jahren immer vollkommener wurden. Tag für Tag ließ er sie den Fluss herunter schwimmen.

Kaum dass er erwachsen war, verließ der junge Mann seinen Vater und wanderte dann am Fluss hinunter zur nächsten Hafenstadt. Dort heuerte er auf einem Schiff an, das an seinem 21. Geburtstag in See stach. Doch schon bald vor der Küste geriet es in einen außergewöhnlich heftigen Sturm, zerschellte an den Klippen und die gesamte Mannschaft und mit ihr auch der junge Mann ertranken. Berichte des großen Unglücks machten die Runde, sogar noch in Boston titelten die Zeitungen damit, doch der Vater erfuhr davon lange nichts, er konnte nicht lesen und ging auch selten unter die Leute. Die Witwe des Kapitäns persönlich brachte dem Vater an einem Spätherbsttag die traurige Kunde. Der nickte nur stumm und ging dann weiter seiner Arbeit nach. Und wenn er nicht gestorben ist, dann tut er das noch heute.

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Martin Dühning, geb. 1975, studierte Germanistik, kath. Theologie und Geschichte in Freiburg im Breisgau, arbeitet am Hochrhein-Gymnasium in Waldshut und ist Gründer, Herausgeber und Chefredakteur von Anastratin.de.