Von Wahrheit und Selbstdarstellung

Liest man in den Medien die Selbstdarstellungen und Berichte von Verantwortlichen aller Art, dann hat es den Anschein, die Welt könnte besser nicht sein, wir lebten, frei nach Leibniz, „in der besten aller möglichen Welten“. Hört man sich dagegen vor Ort um, dann ist die ganze Welt nur ein großes Jammertal. Ja, mancherorts ist die Stimmung so mies, dass selbst im Sommer die Luft zu winterlichem Frost erstarrt. Wie kommts?

Eine Möglichkeit wäre, dass den Verantwortlichen, Politiker oft, aber auch Beamte und Ehrenamtliche, jegliche Bodenhaftung verloren gegangen ist. Mit silbernen Zungen werden geradezu himmlische Zustände herbeigeredet, wo dies nicht möglich ist, weicht man in Floskeln aus oder in amöbenhaftes Sprachgewaber. Eine alternative Methode ist auch, mögliche Kritiker als unwissenden Pöbel abzuqualifizieren oder mit billigem Brot und allerlei Spielchen einfach kaltzustellen. Allerdings leben wir noch nicht ganz im Frankreich der Eliten oder im verspielten Griechenland, sodass noch Hoffnung besteht. Das deutsche Naturell war bislang auch noch viel zu verknöchert und frostig, als dass eine solch mediterane Haltung lange bestand haben könnte (meint man zumindest).

Umgekehrt könnte es aber auch der Fall sein, dass der jammernde Durchschnittsbürger, egal welcher Altersklasse, die Welt einfach viel zu negativ wertet. Immerhin verhungern in Deutschland trotz aller Klagen momentan gar nicht mal so viele Menschen, sodass die Fälle, in denen dies dann doch geschieht, noch einen gewissen Sensationswert besitzen und sich eher auf soziale Konflikte zurückführen lassen als auf schlechte Zeiten. Auch ist uns bislang der Himmel noch nicht auf den Kopf gefallen, obschon dies von einigen gutbürgerlichen Apokalyptikern nicht erst seit der Jahrtausendwende geradezu herbeigesehnt wird.

Am Wahrscheinlichsten ist, dass die Menschen wohl weniger unter realen Miss-Ständen leiden als unter der Differenz von überzogen positiver Selbstdarstellung in den Medien und nüchterner Alltagsrealität. Wir leben eben doch noch nicht ganz im Schlaraffenland und das vom Konsumismus verheißene Paradies ist auch noch nicht eingetreten, selbst wenn man die massive globale Schieflage und mangelnde Nachhaltigkeit mal ganz außer Acht lässt. Insofern sind die klassischen Politikerfloskeln wie „Es ist alles gut!“, „Wir haben gemacht, was wir konnten!“, „Das Bestmögliche ist eingetreten!“ natürlich genau so platt wie unrealistisch. Nicht nur professionelle Journalisten, sondern auch durchschnittliche Normalbürger durchschauen das schnell. Was bleibt, ist Ernüchterung und ein bitterer Nachgeschmack von Lüge und Unaufrichtigkeit.

Was der Normalbürger dabei allerdings leicht übersieht, ist, dass er von der bunten Technik- und Werbewelt längst selbst kompromittiert ist und sich ebenso munter selbst eins vorlügt, wenn er meint, es müsse doch tatsächlich alles besser sein, und dass das Schlaraffenland noch nicht eingetreten ist, liege doch nur an irgendjemandes Unfähigkeit. Bei politisch korrekten Bürgern sind die nächsten Verdächtigen dann natürlich die, welche in der ersten Reihe stehen und sichtlich nur noch beschwichtigen, die professionell Verantwortlichen; aus deren Sicht sind wiederum die faulen „Normalos“ schuld, die immer nur Forderungen stellen und letztlich doch faul und dumm seien. Da in einer (nach)christlich-aufgeklärten Gesellschaft die nächstliegende Lösung, nämlich zur Wiederherstellung der Psychohygiene irgendeinen wehrlosen Sündenbock zu deklarieren und auszurotten, aus moralischen Gründen nicht mehr Frage kommt, sammelt sich ein geradezu smoghafter Unzufriedenheitsnebel über diversen Köpfen an und verdüstert selbst den blauesten Sommerhimmel.

Vielleicht gewönne man mehr, wenn man der nüchternen Wahrheit einmal ins Auge sähe, dass sich optimale Zustände auf dieser Welt niemals verwirklichen lassen und die glücklichen Momente im Leben mitunter eben doch auch eine Sache von Selbstaufrichtigkeit und Zufriedenheit sind – und, sobald mehr als eine Person daran beteiligt ist: ehrlichen Kompromissen. Überzogen perfektionistische Ansprüche an sich selbst und andere und die damit verbundene Flucht in Illusionen sind dem eigenen Lebensglück genau so abträglich wie dem sozialen Frieden und der Demokratie allgemein.

Über Martin Dühning 1493 Artikel
Martin Dühning, geb. 1975, studierte Germanistik, kath. Theologie und Geschichte in Freiburg im Breisgau sowie Informatik in Konstanz, arbeitet als Lehrkraft am Hochrhein-Gymnasium in Waldshut und ist Gründer, Herausgeber und Chefredakteur von Anastratin.de.