Palantíri sind dumme, nutzlose Dinger. Je mehr man sieht, je genauer man nur betrachtet, desto hilfloser wird man. Freiheit realisiert sich im Ethos, sie ist kein Produkt bloßen Faktenwissens…
Denethor, Sohn von Ecthelion, kann einem etwas leid tun, wenn man sein Schicksal nachliest. Dazu verdammt, (nur) ein Truchsess von Gondor zu sein, auf ewig an der Grenze zu bösen Nachbarn – und wie sehr er sich auch bemühte, es wird kein schönes Königreich draus. An diesem grundsätzlichen Ungenügen kann auch Magie nicht viel ändern, wie überhaupt: Magie ändert nie etwas an der Substanz, sie rührt nur an der Oberfläche – so wie viele Kräfte, die man gemeinhin zur Lösung heranzieht, auch in der nicht-fiktionalen Welt von heute.
Dem Truchsess zum Verhängnis werden die Palantíri, jene sehenden Steine, die in Tolkiens „Herr der Ringe“ grundsätzlich schlecht weg kommen, wie auch ihre Benutzer. Sehr lehrreich ist, warum: Sie finden sich unter der Kontrolle von Sauron, der ihre Betrachter nur sehen lässt, was ihm beliebt, was sie in den Wahnsinn treibt – wie auch oben genannten Denethor. Aber selbst ein Weiser wie Saruman kann gegen ihre Tücke nicht bestehen.
Nimmt man nun, etwas vereinfachend, Sauron und seinen magischen Ring als Allegorie auf die Macht an sich, werden die Palantíri zu Symbolen für die ethische Nutzlosigkeit puren Wissens: Wahrlich, keine unwichtige Angelegenheit in einer Wissensgesellschaft wie der unseren, wo Wissen und Erkenntnis alles sind und man glaubt, wer schneller und besser wisse, der sei ein besserer Mensch. Tatsächlich führt eine reine Erkenntnis von Information aber eher zu Resignation und Verzweiflung – denn allzu leicht schließt man von Einzelfakten auf die normative Kraft des Faktischen und findet sich damit ab. Der implizite naturalistische Fehlschluss verfängt umso besser, je höher die Faktenflut ausfällt und je detailreicher. Es braucht dann schon einen Istari mit der Kraft von Narya um sich gegen ein solches Übermaß aufzulehnen – und wir hätten das dringend nötig, gerade auch heute.
Richtig und nicht zu vernachlässigen ist, dass man ohne eine korrekte Faktenbasis keine ethisch verantwortbaren Entscheidungen treffen kann. Daraus ergibt sich – vor allen anderen Werten – eine Pflicht zur Wahrhaftigkeit, denn ohne Wahrheit verkehren sich die besten Ideale zu Lügengespinsten. Die moralische Entscheidung ergibt sich aber noch nicht aus dem korrekten Wissen selbst, sondern aus einem sach- und fachgerechten und vor allem moralisch begründbaren Urteil, das sich mit den faktischen und den möglichen Gegebenheiten auseinandersetzt. Fakten spiegeln Ist-Zustände wider, lassen auch Rückschlüsse auf die Vergangenheit zu – aber moralische Entscheidungen sind in die Zukunft gerichtet, nicht nur rein deskriptive Prognosen, sondern Handlungsmaximen, als solche in ihrer Zuverlässigkeit begrenzt – denn als Prognosen können sie sich im Nachhinein auch als richtig oder falsch erweisen. Ungeachtet dessen erfordert moralisches Entscheiden aber Handeln mit innerer Freiheit, die von bloßen Fakten abstrahiert.
Sich in das Fatum des Faktischen zu ergeben ist kein moralisches Handeln, sondern eine Kapitulation vor der Welt. Zu glauben, durch bloßes Ansammeln von Informationen zu einem ethisch guten Handeln zu kommen ist nicht nur ein Fehler magieaffiner Orakelgläubiger, sondern auch vieler moderner Statistikfreunde. So manch Lösung wurde nicht wirklich realisiert, weil man glaubte, die Kenntnis der Umstände allein genüge schon, um ein Problem aus der Welt zu schaffen. Und es wird nicht besser, je mehr an Verantwortung wir auf die Technik verlagern. Deshalb ist auch „Digitalisierung“ keine Lösung. Denn Künstliche Intelligenz ist bis dato auch nicht viel mehr als eine automatische Statistikverarbeitung – und wenn man sie wie einen Palantír nutzt, im Glauben, daraus entstünde dann – quasi automatisiert – Gutes, dann ist man nicht viel besser als alle jene, die ihre Zukunft in die Hände von Kirmesmagiern legen. Im einfachsten Fall verpufft die Initiative dann im digitalen Nirvana, im schlimmsten Fall endet man dann hoffnungslos und verbittert wie ein Denethor, der sich letztlich nur noch in ein angeblich unausweichliches Schicksal ergeben kann.
Dabei gibt es doch kein unausweichliches Schicksal, was uns im Leben konfrontiert, sondern allenfalls Fügungen – und gegen diese kann man ankämpfen und sollte es auch tun. Das muss man selbst tun, man kann es nicht „automatisieren“. Gerade das macht moralisches Handeln aus – dass es kein automatisches Agieren ist, sondern ein bewusstes Handeln – auch gegen die Wahrscheinlichkeiten.