Frühlingsgefühle

Nachdem D. das ältliche Fenster geöffnet hatte, wurde ihm verdächtig schnell bewusst, dass „Frühling“ und in gewisser, selbst durch penibles Ignorieren kaum zu leugnender Weise auch „Wärme“ doch recht relative Begrifflichkeiten waren. Jedoch war es weniger den Begriffen selbst, als der sie umgebenden Gesellschaft anzulasten, die das Ganze unmerklich herunterzog:

Es handelte sich, wie der Deutschlehrer wusste, um nichtsnutzige adverbiale Bestimmungen, überfällige bis heimtückische attributive Ergänzungen und anderen semantischen Kleinkram, welcher, sofern man ihn nicht rechtzeitig genug bemerkte, unweigerlich jeden ins Verderben treiben würde – oder in diesem Falle in eine böse Erkältungskrankheit.

Der Frühling war nämlich kaum oder allenfalls auszugsweise, wahlweise auch eher astronomisch oder metereologisch, jedoch nicht wirklich klimatisch verifizierbar über das Wochenende eingetreten. Und so war auch die Wärme nicht gänzlich fühlbar, allenfalls erahnbar, oder doch eher ganz unmerklich, jedenfalls aber nicht ausgeprägt gewesen, was man ganz im Gegensatz dazu von Regen-, Graupel- und sonstigen Schauerlichkeiten nun wieder nicht behaupten konnte.

Leidlicherweise war D., als dann endlich ein Hauch von Zephyr durch die Landschaften strich, dann schon so mit zerzupften Schals und aufgebrauchten Taschentüchern umgeben, die ihm der üble Boreas eingebrockt hatte, dass er die letztlich doch noch eintreffenden linden Frühlingslüfte kaum mehr wahrnahm. Hüstelnd, keuchend und schnäuzend schleppte sich D. zum Fenster, üble Gedanken in sich zusammenköchelnd, um die Vorhänge wieder ganz oder zumindest teilweise zuzuziehen. Denn die eitle Sonne mochte er so nun auch nicht mehr betrachten, Temperaturen nahm er durch die Schmerzmittelwand nicht mehr wahr. Fühlen oder sehen mochte er weder die tülden Grünpflänzchen in den Gartenschatten, noch die zerknitterten Schmetterlinge an den Hauswänden, die den Frost fast ganz wie er wohl auch ein paar mal zu oft abbekommen hatten.

Diese Welt, dachte D., ist einfach auf Widerwärtigkeiten hin ausgelegt: Entweder, man bringt die wenigen schönen Sonnentage, die aber ohnehin mehr eingebildete als wirkliche waren, in Büros, Klassenzimmern oder Konferenzsitzungen zu, oder man war krank, da es an den Wochenenden ja immer – und zwar statistisch durchaus belegbar – zu kaum lobenswerten metereologischen Entwicklungen kam.

Nun gut, versuchte sich D. vergeblich zu trösten, immerhin war ja noch erst März, oder zumindest immer noch ein wenig, und die Hoffnung allenfalls gegeben, nicht jedoch ganz zu verwerfen, dass, um dem Leiden ein Ende zu setzen, irgendwann doch eine längere Gutwetterphase eintreten könnte.

Wohlwissend aber, dieser kümmerliche Gedanke lenke vom Kummer an der Welt nicht ab, starrte D. wenig später schon verbittert in eine Kräuterteetasse und wünschte sich in die guten alten Zeiten zurück, die, wie er genau wusste, ohnehin nie existiert hatten.

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Martin Dühning, geb. 1975, studierte Germanistik, kath. Theologie und Geschichte in Freiburg im Breisgau, arbeitet am Hochrhein-Gymnasium in Waldshut und ist Gründer, Herausgeber und Chefredakteur von Anastratin.de.