Delphi XE2 ist da – und damit bricht auch für treu gebliebene Delphi-Fans endlich das 64-Bit-Zeitalter an. Nicht nur das, auch MacOS und – über Umwege – sogar iOS 4.2 können nun mit Delphi-Progrämmchen versorgt werden. Doch gibt es noch mehr überraschende Neuerungen, denn neben dem neu entwickelten Framework „Firemonkey“, das die Apple-Unterstützung erst ermöglicht, wird seitens Embarcadero gleich FreePascal mitgeadelt, denn zur iOS-Entwicklung (über Freepascal und XCode) ist dieser Compiler nötig und FireMonkey unterstützt daher auch offenziell den OpenSource-Pascal-Compiler.
Hochzeit Nr. 1: Delphi und 64-Bit
Was Windows angeht, hat der traditionelle Entwickler nun erst mal die Wahl zwischen 32-Bit und 64-Bit-VCL-Anwendungen. Letztere lassen sich über den erneuerten Projektmanager, standardmäßig rechts im Fenster der Entwicklungsumgebung, per Knopfdruck hin- und herschalten. Die Portierung auch vorhandener 32-Bit-Projekte klappt relativ problemlos. Man kann bei der selben Projektdatei jederzeit beide Executables erstellen, ohne zwei getrennte Projekte verwalten zu müssen. Im Quelltext kann man zur Not auf bedingte Kompilierung zurückgreifen, um verschiedene Ziele zu berücksichtigen – unter anderem auch MacOS.
Doppelhochzeit: Delphi, Mac und Multimedia
Will man für andere Plattformen als Windows entwickeln – MacOS und iOS stehen offiziell auf der Agenda – oder erwägt man wirkliche Multimedia, muss man dagegen ganz neu ein FireMonkey-Projekt erstellen, eine einfache Umwandlung vorhandener Projekte per Knopfdruck ist hier nicht vorgesehen und wäre wohl auch schwierig, da beide Entwicklerframeworks einen unterschiedlichen Weg gehen. Die traditionelle VCL-Bibliothek baut auf Windows-Komponenten auf, FireMonkey ist eine Neuentwicklung, die einerseits betriebssystemübergreifend ausgelegt ist, andererseits ein hardwarebeschleunigtes Multimediaframework darstellt, das explizit von modernen GPU- und Shaderfunktionen Gebrauch macht. Zusammen mit dem neuen Konzept der „Livebindings„, die das alte Komponentenkonzept von Delphi potenzieren, war es noch nie so einfach, Multimediaanwendungen zu basteln – und das teils ohne eine einzige Zeile Quelltext!
Stilistische Freiheiten
Die mitgelieferten Beispiele zeigen das eindrücklich: Es ist genauso leicht möglich, Anwendungen im Stil von Windows 7, MacOS, iOS oder graphitfarben wie diverse Adobe-Produkte zu gestalten, als auch gänzlich in 3D – denn alle Komponenten kann man auch frei im Raum anordnen oder auch animieren – hardwarebeschleunigt in Echtzeit, versteht sich. Das Framework versteht sich im Umgang mit gängigen Multimediaformaten bis hin zu 3ds. Von Haus aus werden von FireMonkey auch diverse Shadereffekte zur Grafikmanipulation mitgeliefert, sodass einem schnell zusammengestrickten Photoshop-Clone nichts im Wege steht, ganz ohne dass man sich mit kniffligen Quelltexten oder kryptischen Algorithmen herumschlagen müsste.
Überarbeitet wurde der Quelltexteditor dennoch und ist nun durch einige praktische Ergänzungen noch intuitiver, schon die XE-Version hatte ja einige Alltagsbedürfnisse moderner Entwickler stärker berücksichtigt (wie z. B. die Anbindung an eine Versionskontrolle wie Subversion). Embarcadero hat das Ohr offenbar deutlich näher an den Entwicklern als die Vorgängerfirmen und kaufte auch in der Vergangenheit schon mal gerne vielversprechende Delphiweiterentwicklungen von begabten Drittherstellern auf (wie z. B. bei Prism). Auch der Support machte auf mich einen recht engagierten Eindruck. Er reagierte sehr schnell und binnen Minuten auf Anfragen meinerseits, als ich Probleme mit der Installation hatte.
Fazit: Interessant trotz Patchbedarf
Bis zu einem vollständig ausgereiften Produkt gibt es aber noch einiges zu tun. Die Onlinehilfe ist gerade zu FireMonkey oft noch etwas arg lückenhaft und da die Fangemeinde zumindest in Deutschland stark abgenommen hat, ist es auch anderorts schwer geworden, an die nötigen Informationen zu kommen. Gute Delphi-Bücher sind genau so rar geworden wie Delphi-Entwicklerzeitschriften.
Insgesamt macht Delphi XE2 jedoch einen sehr vielversprechenden Eindruck, wenn einige der Neuerungen auch noch nicht ganz fertig sind. Gerade für das brandneue FireMonkey wird noch der eine oder andere Patch nötig werden, teilweise fehlen auch noch ein paar zusätzliche Funktionen in der Bibliothek, wenn man damit nicht nur multimediale Bildbetrachter oder Bildschirmschoner entwickeln soll, so z. B. eine Unterstützung für Mehrfachsprachanwendungen (die integrierte unterstützt bislang nur die VCL) oder eine Komponente, um HTML5 darzustellen. Die Entwicklung für iOS ist augenblicklich alles andere als intuitiv. Man benötigt dafür nicht nur eine Entwicklerversion(!) von FreePascal, sondern auch noch einen Mac samt installiertem XCode. Das ist so noch etwas arg umständlich.
Neuer Ansatz: „Graphics & Style“
Doch ist der Ansatz zumindest interessant und trifft vielleicht den Nerv der Pascal-Liebhaber. Sind doch viele von ihnen inzwischen in dem Alter, in dem man sich gern mit dem luxuriösen Nimbus eines Apple-Systems umgibt – und beide Nutzerkreise haben einen gewissen Hang zu EDV-Ästhetik (bei Pascal-Liebhabern ist es die alte Klarheit der Programmiersprache) und zu multimedialen Spielereien (die einst in Scharen von Delphientwicklern bebastelt wurden, aber oft am berüchtigten Windows-GDI scheiterten). Beide, Pascal wie Apple, haben notorische Fans, keine einfachen Benutzer. Vielleicht ist Delphi XE2 eine späte Dreifachhochzeit – es finden einige Dinge zusammen, die vielleicht immer schon gut zusammen gepasst hätten: Pascal, 64-Bit-Multimedia-RAD und Mac-Flair.
Andererseits kommt XE2 reichlich spät. Generationen vermasselter Delphiversionen, bevor Embarcadero das Ruder endlich herumriss, haben die Nutzerbasis bedenklich schwinden lassen. Fatal gerade in Deutschland war die missratene Firmenpolitik von Inprise (dem Anfang vom Ende der glücklichen Tage): fehlerhafte, schwerfällige und instabile Versionen wurden zu völlig überteuerten Preisen auf den Markt geworfen, entworfen für elitäre Entwickler in Großunternehmen, die vielen kleinen Heimentwickler dagegen wurden stiefmütterlich behandelt, der Kauf verteuert und erschwert und mitunter auch deshalb Delphi aus den Schulen vertrieben. Denn keine Version nach 7 ließ sich mehr in dortigen Netzwerken betreiben, selbst wenn man mal das Geld zusammenbekommen hätte. Dabei war Pascal von jeher eine Schulungssprache. Schade. Heute haben es dort Java, C# und Python ersetzt.
Der Preis: nur für Kaltduscher
Ob das neue XE2 junge Nutzerkreise wieder erreicht, ist eher fraglich. Da dürften FreePascal und Lazarus erfolgreicher sein, fristen inzwischen aber auch eher ein Nischendasein in Schulen, da sie keine aktuellen Akzente setzen. Aber durch das Multimediaframework FireMonkey und die ausbaubare Mehrplattformunterstützung gewinnt Delphi vielleicht ganz neue Nutzerkreise in der bunten neuen Multimediawelt der Tablets – wenn die Entwicklung dafür mal intuitiver wird und vielleicht auch noch Android hinzukommt (der FreePascal-Compiler kann ja neuerdings in der Entwicklerversion verdächtigerweise auch JAVA-Bytecode erstellen). „Rapid Application Development“ geht nun wirklich wieder zeitgemäß multimedial und intuitiv mit Delphi.
Einem plattformübergreifenden „3D – Tin Quizzy – 2012“ stünde nun eigentlich damit auch nichts mehr im Weg – außer vielleicht der Preis. Denn 570 EUR für das Professional-Update sind nicht gerade wenig und die mit 170 EUR deutlich billigere Starteredition kann weiterhin nur 32-Bit Windows – wohl aber immerhin mit FireMonkey.
Ein Todesfall
Für einen alten Weggefährten der Pascal-Welt kommt die neue, multimediale Delphi-Welt allerdings in jedem Fall zu spät: Im Juni verstarb die bei Kennern renommierte und bei treuen Pascal-Fans beliebte Computerzeitschrift „Toolbox Multimedia„. Sie wurde in aller Stille vom Verlag beerdigt. Möge sie in Frieden ruhen. Sie hätte sich über das neue Delphi sicherlich gefreut…