Oma Juna will es wissen! (Teil 2)

Aus dem Leben einer Botschafterin, Teil 18

Gut, der Zug würde nicht weiterfahren wegen des Sturmes. Oma Juna wäre aber nicht Oma Juna gewesen, wenn sich die alte Andraskanerin davon hätte beeindrucken lassen. Sie war ja nicht irgendwer – sie war Oma Juna, das Original!

Allein, mit den Gewalten war nicht zu spaßen: Wer behaupten würde, es hätte damals, in dieser Heiligen Nacht im Jahr 500, wie aus Kübeln gegossen, der hat noch nie einen nordandraskanischen Taifun erlebt. Es goss nicht wie aus Kübeln, es war eher, als hätte sich das Meer urplötzlich erhoben und beschlossen, einen kleinen Landausflug zu unternehmen – und dabei seine besten Freunde, Wind und Eishagel, überredet gleich mitzukommen. So flogen Schnee, Eis, Gischt und alles, was die Elemente aufzubieten hatten, Oma Juna um die Ohren, als sie sich fort vom sicheren Zug, landeinwärts kämpfte. Ein kleines Häufchen Elend kämpfte sich da schrittweise voran.

Den Gedanken, den Schienen zu folgen, hatte Oma Juna sehr schnell aufgeben müssen, da die Gleise ziemlich augenscheinlich mitten ins verrückte Meer zu laufen schienen, doch zum Zug zurück konnte sie auch nicht mehr, da sich dieser zwischenzeitlich vor dem Getöse der Elemente in Sicherheit gebracht hatte und wieder zurückgefahren war. So war die Alte allein mitten im Taifun und das Ganze hätte sicher ein böses Ende genommen, hätte sie in einer Regenpause nicht doch noch in der Ferne ein kleines Lichtlein erspät. Mühsam kämpfte sie sich darauf zu, aber ihre Kräfte schwanden zusehends, ebenso ihre Zuversicht, und der total verschlammte Koffer war trotz seines luftigen Inhalts doch viel zu schwer für die alte Dame.

Es war ein Tyrillianerkind, das Oma Juna das Leben rettete. Jolanthe, wie es hieß, war auf die relativ unsinnige Idee gekommen, mitten in der stürmischen Nacht das Christkind zu suchen, um sich bei ihm ausgiebig zu beschweren: Denn der Heiligabend war überhaupt nicht schön gewesen! Seine Großmutter hatte es durch den Sturm nicht nachhause geschafft, und mit ihr die ganzen dollen Geschenke, und Mutter Cosmea war deshalb auch zornig und gehässig gewesen und alle, auch die fünf Geschwister, hatten heftig miteinander gestritten. Als Jolanthe gegen alle Vernunft und die ausdrücklichen Anweisungen der Eltern aber doch einfach ausgerissen war – so wie Tyrillianerkinder in einem gewissen Alter eben sind – da brauchte Jolanthe mit seinem siebten Sinn nicht lange, um die alte Frau im Sturm auszumachen und mit viel tyrillianischer Sturheit schaffte es das Kind, Oma Juna in das Landhaus seiner Familie zu zerren.

Die Hausherrin, Cosmea Tarikanu, war verdutzt, was für ein seltames Geschöpf ihr jüngstes Kind da ins Haus schleppte, zusammen mit einem algenverhängten und halb aufgeweichtem Koffer – und die alte Juna wurde erst einmal gründlich gebadet, neu eingekleidet und an den Kamin zum Trocknen verfrachtet. Die achtköpfige Tyrillianerfamilie, bestehend aus Mutter, Vater und sechs Kindern blickten die alte Dame lange erwartungsvoll an – da diese aber völlig erschöpfend zusammengesunken und in einen gesunden Schlaf weggedämmert war, entschied man sich, das seltsame alte Wesen erst einmal ausschlafen zu lassen.

Am nächsten Morgen war es wieder Jolanthe, die sich an Oma Juna zu schaffen machte, denn das Tyrillianerkind hatte die Nacht über nachgegrübelt und war daher der Idee verfallen, dass es sich bei Oma Juna in Wirklichkeit um niemanden anders handeln konnte als um das Christkind, dass sich hier in Gestalt einer verwahrlosten Hutzelfrau eingeschlichen hatte, um Weihnachten doch noch zu retten. Oma Juna war allerdings erst einmal nicht vernünftig ansprechbar, vollkommen desorientiert und geradezu verzweifelt, als sie feststellte, dass irgendjemand sie heimlich in einen rosa Schlafanzug gesteckt hatte, der ihr überdies viel zu groß war. Über ihre Honigvorräte hatten sich inzwischen sechs Tyrillianerkinder hergemacht, die sie längst adoptiert hatten anstelle ihrer Weihnachtsgeschenke, die mit ihrer eigenen Großmutter weiterhin verschollen blieben. Cosmea Tarikanu dagegen war das Ganze sehr peinlich, denn sie hatten die alte Frau als Gast aufnehmen, nicht ausplündern wollen. Daher reagierte sie bestürzt, als sie feststellte, dass Oma Juna über all das Ungemach in bittere Tränen ausgebrochen war. Cosmea und ihr Ehemann versuchten alles, um die gute Juna zu beschwichtigen, aber vergeblich – morgen wäre die Krönung ihres Enkels, und nun hatte sie nicht einmal mehr Geschenke. Alles Entschuldigen und Flehen half nichts, Oma Juna war zerschlagen und wollte nur noch sterben. Und als es viel schlimmer nicht mehr kommen konnte, da betrat eine sehr missgelaunte Großmutter Tarikanu das Haus.

Dr. Madras Tarikanu hatte vor ihrer Pensionierung, weit entfernt und unter anderem Namen, sehr, sehr lange Zeit einen hohen Posten im Civinat innegehabt und sie hasste es schon deswegen, unpünktlich zu sein. Censorialbeamten, auch pensionierte, hassen Unpünktlichkeit. Jahrzehntelang hatte Dr. Tarikanu aus Gründen des Personenschutzes ihre Familie nicht sehen dürfen, hatte sich in ihrem Leben so mancher Gefahr ausgesetzt und genau beim ersten großen Familienfest nach 75 Jahren familiärer Abstinenz war ihr ein vermaledeiter nordandraskanischer Taifun in die Quere gekommen, der mit allerhand Tang und Eis im Gepäck ihr Transportshuttle so beschädigt hatte, dass sie bis in die frühen Morgenstunden gebraucht hatte, um es wieder funktionstüchtig zu machen. Natürlich war ihr klar, dass sie jetzt für diese Weihnachten viel zu spät war und sie wusste, dass ihre Enkelkinder ihr das nie verzeihen würden. Außerdem, und das war noch viel schlimmer, würde sie sich selbst das nie verzeihen. Dabei hatte sie alles so sorgsam geplant, sogar diese hübsche Küstenvilla angemietet mit dem letzten Rest ihres schwindenden Einflusses. Aber aus und vorbei: Der perfekte Moment war ein für allemal vorbei und verpasst. Tyrillianer hassen so etwas!

Das Erste, was Dr. Tarikanu auffiel, als sie das Haus betrat, war allerdings, dass kaum jemand von ihr Notiz nahm. Als begabte Empathin ortete sie auch sofort das Zentrum der allgemeinen Aufgeregtheit: Dort, auf dem Sofa, saß eine uralte Frau, noch sehr viel älter als sie selber, und zwar in ihrem Lieblingspyjama! Drumherum vesperten die aufgeregten Kinder fremden Honig und Hefezopf und ihre Tochter nebst Ehemann waren mit sehr viel Mühe dabei, die aufgeregte uralte Frau ob ihrer Verluste zu trösten. Diese Frau empfand innigen Schmerz, denn sie hatte Angst, die letzte Freude ihres Lebens zu verpassen.

Was diese letzte Freude der alten Dame war, bekam Dr. Tarikanu nicht so schnell heraus, dass es aber ebenfalls darum ging, einen perfekten Augenblick nicht zu verpassen, das war ihr sofort klar. Und deshalb beschloss sie auch augenblicklich, der fremden Dame zu helfen, weil sie nicht das gleiche Schicksal wie sie selbst ereilen sollte: Lange getrennt zu sein von der eigenen Familie und dann die große Wiedersehensfeier zu verpassen! Also bot sich Dr. Tarikanu sofort als Hilfe an.

Ihre Tochter Cosmea war sehr dankbar, weil Mama es sowieso meist besser konnte als sie selbst. Die hatte ja schon mehrfach die Welt gerettet. Der alten Juna zu helfen, zur Krönung zu kommen, wäre sicherlich ein Kinderspiel. Freilich glaubte Großmutter Tarikanu der alten Juna nicht ganz, dass Juna wirklich die Oma des künftigen Kaisers wäre – dieser war ja bekanntlich als Waise aufgewachsen und im Hause des Handelsmagistraten Messalinas groß geworden, eben weil alle seine Verwandten bereits gestorben waren. Aber wie auch immer, wenn es das Lebensglück der alten Juna retten würde, die offenbar zwar schrullig und alt, sonst aber herzensgut und harmlos war, dann würde sie, Dr. Tarikanu, gerne dazu beitragen. Zunächst einmal mussten alle Mitglieder der Familie Tarikanu Oma Juna davon überzeugen, dass die Welt noch nicht unterging. Das dauerte sehr lange und bedurfte noch eines ausgiebigen Weihnachtsessens mit anschließendem Spieleabend. Herzerwärmt und glücklich schlief Oma Juna an diesem Abend ein, früh am nächsten Morgen, so hatte man es ihr versprochen, würde sie die pensionierte Censorialbeamtin höchstpersönlich zur Krönung bringen, in ihrem Schnellshuttle.

Und tatsächlich wurde Oma Juna, freilich nun ohne ihren Koffer, in der Frühe des Stephanstages schnellstens festamtlich umgekleidet, nur ihren geliebten Strohhut durfte sie behalten, und in das Shuttle von Dr. Tarikanu verfrachtet. Damit ging es dann in wenigen Stunden Richtung Dinopolis, und die ehemalige Censorialtribunin hatte natürlich auch keinerlei Schwierigkeiten dabei, noch rechtzeitig durch die Sicherheitsschranken gelassen zu werden und eine Krönungsplatzkarte zu erhalten – freilich, so groß war dann der Einfluss von Madras Tarikanu doch nicht mehr, es waren nur Passkarten für den großen Platz vor der Kathedrale. Und weil sie sich verantwortlich fühlte, leistete ihr die andere Großmutter Gesellschaft und wollte die alte Juna danach noch zu einem Abschlussessen bei ihrer Familie einladen und sie danach wieder nachhause bringen.

Fortsetzung folgt…

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Martin Dühning, geb. 1975, studierte Germanistik, kath. Theologie und Geschichte in Freiburg im Breisgau, arbeitet am Hochrhein-Gymnasium in Waldshut und ist Gründer, Herausgeber und Chefredakteur von Anastratin.de.