Die Straße der Kindheit

Die Straße der Kindheit (Foto: Pawel L. über Pexels)
Die Straße der Kindheit (Foto: Pawel L. über Pexels)

„Barndommens Gade“, zu deutsch etwa: „Die Straße der Kindheit“, ist ein sehr empathischer Song, vielleicht geeignet, trübe Novembertage aufzuhellen.

Auf den Song stieß ich heute eher über Umwege. Es war ein langer, trüber und überaus nasser Novemberfreitag gewesen, der für mich etwas vor Fünf Uhr morgens begann, weil ich wieder einmal schlecht geschlafen hatte. Obwohl er schulischerseits durchaus ok war, war ich doch so trübe gestimmt, es regnete und war den ganzen Tag duster, sodass ich mich wieder an mein Vorhaben machte, über dänische Musik zu schreiben. Über meine Begeisterung für schottische, schwedische oder norwegische Musiker habe ich ja schon an anderer Stelle geschrieben. Eigentlich wäre jetzt der richtige Zeitpunkt gewesen, über dänische Folkmusik zu berichten, nämlich die des Danish String Quartet, die in Abwandlung auch als Dreamer’s Circus anzutreffen sind. Über ihre Facebook-Seite vernahm ich Neuigkeiten über ein gemeinsames Konzert des Danish String Quartet mit dem Danish National Girls Choir, wonach ich dann auf Youtube stöberte – fand dort allerdings nichts.

Stattdessen stieß ich aber auf Chorstücke des DR PigeKoret, unter anderem auch „Barndommens Gade“, ein Cover von Anne Linnet. Neugierig stöberte ich weiter und fand heraus, dass es vom DR PigeKoret, zumindest digital, auch Alben gibt und hörte beispielsweise „Der Kom Et Glimt Af Sol I Dag“ aus dem Jahr 2011 probe, wobei mir dessen Melodien und Harmonien allerdings etwas zu brav (weil vorhersehbar und daher langweilig) waren. Ich verblieb also bei „Barndommens Gade“ und beschäftigte mich etwas genauer mit dem Text und der Geschichte dieses Stücks.

Der Song stammt im Original Anne Linnet, einer 1953 in Århus geborenen, dänischen Songwriterin. Den Song schrieb sie 1986 für den gleichnamigen Film „Barndommens Gade“ von Astrid Henning-Jensen, der wiederum auf einer Novelle der dänischen Autorin Tove Ditlevsen basiert. Zu dem Titelsong gibt es auch ein zeitgenössisches Musikvideo von Anne Linnet, das auch auf Youtube zu finden ist. Ich bin eigentlich kein großer Fan der 80er Jahre, vieles davon ist heute eigentlich nur noch peinlich, doch scheint dieses Musikvideo vergleichsweise vorteilhaft gealtert zu sein. Das mag einerseits daran liegen, dass Anne Linnet deutlich erwachsener und vernünftiger rüberkommt als so mancher andere Möchtegern-Yuppie der damaligen Popkultur, sie strahlt im Video souverän und äußerst positiv aus (sodass man ihr sogar das zebragestreifte Damensakko verzeiht). Aber auch das Filmsetting trägt viel dazu bei, denn Szenerie des Videos sind wie beim Film die 30er Jahre und farblich dezente Erdentöne. Nur zwischenrein hüpft manchmal eine erstaunlich multiethnische, quitschbunte Kinderschar der 80ziger. Zum Niveau des Songs trägt allerdings nicht unerheblich auch der Songtext bei, den ich bemerkenswert tiefsinnig finde. In der Allegorie der „Kindheitsstraße“ reflektiert er die Bedeutung von Kindheitserfahrungen für das spätere eigene Leben, ganz ohne in die gängigen Popklischees zu verfallen, ja, er ist eine Mischung aus Wehmut und Lebensweisheit, bleibt dabei überzeitlich allgemein, sodass man ihn problemlos auch als Lyrik durchgehen lassen kann (er basiert auch auf einem älteren Text von Tove Ditlevsen). Vielleicht werde ich ihn mal entsprechend in deutschsprachige Gedichtform übersetzen.

Diese Qualitäten mögen dazu beigetragen haben, dass man Linnets Song in Dänemark über all die Jahre nicht vergessen hat – wieso sonst sollte ihn das renommierte DR PigeKoret zusammen mit dem Mädchenkinderchor DR BørneKoret symphonisch aufbereiten? Das passende Video „Barndommens Gade“ des DR Koncerthuset intoniert den Song konzertant und harmonisch, durchaus anspruchsvoller aufbereitet als das Original; sehr berührt hat mich aber auch, wie die jungen Sängerinnen beim Vortrag auch gefühlsmäßig dabei sind. Gesichter strahlen, Augen funkeln. Ja, eines der jüngeren Mädchen ist beim Singen sogar sichtlich zu Tränen gerührt, was mir schon nahe ging: Es sind solche Musikvorträge, die mir bisweilen die Gewissheit zurückgeben, dass für manche Menschen Musik eben doch auch vor allem Gefühl ist, nicht nur Kommerz oder Jobroutine. Sehr wohl tat mir auch, dass man die instrumentale Begleitung des Chores auf Konzertpiano und Streichertrio beschränkt hat – und die Synthesizer des Originales tilgte. Bei allem Gefühl wird der Chorsatz nirgends zu schwulstig, was oft ein Problem modernerer Chorsätze ist. Hier stimmt eigentlich alles – Gesang, Begleitung, Harmonik und auch der Songtext. Von solcher Musik würde ich mir mehr wünschen!

Es gibt aber noch eine dritte, sehr hörenswerte Version des Songs: Sie stammt vom dänischen Musiker Søren Okholm und kann auf dessen Youtube-Auftritt eingesehen und angehört werden. Okholm bezeichnet seine Version von „Barndommens Gade“ schlicht als „Cover“, passender wäre aber eher, von einer durchaus künstlerischen Neuinterpretation zu sprechen. Denn für seinen Soloauftritt am Piano hat Okholm den Satz neu komponiert und er trägt den Song überaus bedacht und wesentlich charaktervoller vor – wozu seine charmante, timbrevolle Stimme nicht unwesentlich beiträgt. Die Videopräsentation ist auf den Solovortrag fokussiert, das B/W-Setting passt dazu perfekt. Es ist verwunderlich, dass das Youtube-Video verhältnismäßig wenig Beachtung gefunden hat, vielleicht liegt es daran, dass der Song eben in Dänisch gehalten ist – ich finde, der Mann hätte dennoch internationales Chart-Potential. Jedenfalls wirkt er im Gesamt doch viel besser als das, was man aktuell so im Konsumerhitbetrieb gerade so hören muss. (Auch die anderen Aufnahmen von Okholm sind nämlich durchweg hörenswert.)

 

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Martin Dühning, geb. 1975, studierte Germanistik, kath. Theologie und Geschichte in Freiburg im Breisgau sowie Informatik in Konstanz, arbeitet als Lehrkraft am Hochrhein-Gymnasium in Waldshut und ist Gründer, Herausgeber und Chefredakteur von Anastratin.de.