Das spielerische Element von Kunst

Collagen-Kunst (Foto: Cottonbro via Pexels)
Collagen-Kunst (Foto: Cottonbro via Pexels)

Mit der hohen Kunst ist es so eine Sache: Sie darf nicht zu konventionell sein, es geht um Ausdruck – oft steht nur das Ergebnis im Vordergrund. Dabei ist Kunst auch Spiel – und Spielen menschlich!

„Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ – Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen

Kindische Spiele

Ich erinnere mich noch gut an eine sehr nützliche Sache, die meine Kindheit in den 1980ern begleitet hat: Versandhauskataloge. Versandhäuser wie Neckermann, Quelle oder Otto schickten uns halbjährlich einen mehrere tausend Seiten dicken Verlagskatalog zu, voll gefüllt mit unerfüllten Konsumträumen. Wer nur das Internet kennt, kann sich nicht ausmalen, was dieser Katalog für ein Kinderherz bedeutete: Es ging nicht um Konsum, nicht um das Haben, es ging um das Träumen, wenn man diese wundervollen Druckwerke durchstöberte: Denn dieser Katalog steckte voller schöner, kunterbunter Dinge, die nur darauf warteten, befreit zu werden! Und zwar befreit mit einer Schere! Erst wurden sie ausgeschnitten, dann wurden all die schönen Dinge auf ein großes weißes Blatt Papier übertragen, befreit in eine neue Fantasiewelt, wo sie ein neues Leben führen durften. So entstanden Collagen in Mischtechnik, teils aufgeklebt, teils gemalt. Es war wunderbar!

Natürlich durfte ich als Kind nicht einfach so neue, teure Papierkataloge zerschneiden. Ich musste warten, bis die richtige Jahreszeit gekommen war – und das bedeutete: Den Winterkatalog bekam ich erst im Sommer danach, den Sommerkatalog im Winter. Das wiederum führte dazu, dass kleine Wintermenschen Sommerbilder bevölkerten und umgekehrt. Oft fehlten auch dann bestimmte Dinge in der „falschen Jahreszeit“ – die mussten dann von Hand nachgemalt werden. Damit übte ich, ohne es zu merken, das Abzeichnen und Nachmalen. Aber es ging mir damals nicht um das Üben oder Trainieren – es ging darum, kleine Welten zu erschaffen! Keine dieser Collagen hat aus meiner Kindheit überlebt. Denn sie waren nicht wirklich „schön“ oder gar Meisterleistungen. Es ging um Fantasie! Es ging um künstlerisches Spiel!

Nun werden Kunstexperten genauso wie Spieletheoretiker einwenden, dass das Zerschnippseln von Versandhauskatalogen weder eine künstlerische Betätigung noch ein pädagogisch hochwertiges Spiel sei. Dem ist zuzustimmen, sofern man nur einen höherwertigen „Sinn“, eine Berufung oder einen Lebenszweck im Auge hat. Doch dem Spielenden ist die ganze Welt genug, denn seine Wirklichkeit entsteht in seiner Fantasie.

Deshalb brauchen Kinder eigentlich kein teures, pädagogisch wertvolles Spielzeug, um spielen zu können. Es ist kleinen Menschen zu eigen, dass für sie alles ein Spielzeug sein kann. Nur fantasielose Erwachsene, die nur noch in festgesetzten Weltbildern leben, brauchen „kostbare“ Dinge um sich herum, die ihre „hochwertigen“ Stereotypen möglichst optimal replizieren. Nur Erwachsene können auf die Idee kommen, dass ein Kind deshalb spielen würde, weil es eine Fähigkeit trainieren will. Das ist die Erwachsenensicht – Kinder dagegen spielen, weil es ihnen Freude bereitet.

Spielen ist ein Lustprinzip, das den Menschen im Laufe ihres Erwachsenwerdens oft verlorengeht. Aber echte Künstler können das noch nachfühlen.

Kunst als Spiel

Das Kunst vor allem ein Spiel mit den Möglichkeiten ist, das Ergebnis ein bloß nützliches Produkt davon, aber nicht das eigentliche Ziel, das wird heutzutage gerne vergessen. Das kommt auch daher, dass wir Kunsthandwerker (modern: Designer) und Künstler nicht wirklich mehr unterscheiden. Ich habe eine hohe Wertschätzung für gut gemachte Werke, weshalb ich auch Kunsthandwerker und Designer bewundere. Aber Kunst ist eigentlich mehr als das: Sie ist ein personales Geschehen, das eine entsprechende geistig-emotionale Haltung der Freiheit und Unbestimmtheit voraussetzt. Deshalb darf man sie gerade nicht nur nach ihrer Zweckmäßigkeit beurteilen!

Es hat lange gebraucht und war eine große Leistung, dass sich Kunst in der Moderne endlich von dem Zwang befreite, sie müsse zweckmäßig sein. Dabei erkannten moderne Künstler, dass der Modus der Kunst als Spiel eigentlich den Menschen schon angeboren ist. Eigentlich.

„Als Kind ist jeder ein Künstler.
Die Schwierigkeit liegt darin, als Erwachsener einer zu bleiben“ – Pablo Picasso

Je mehr die Kindheit aber durch gesellschaftliche Optimierungsmaßnahmen verkürzt wird, desto schwieriger wird es, die Begabung zum künstlerischen Spiel aufrecht zu erhalten: Tatsächlich hat die Kindheit meiner Meinung nach in den letzten 30 Jahren viel von ihrem Reiz verloren dadurch, dass junge Menschen frühestmöglich in perfekte, politisch und ästhetisch korrekte Welten verpflanzt werden, wo ein freies Spiel kaum noch möglich ist. Die Kinder werden mit perfekten Idealen überschüttet und auf Perfektion getrimmt. Schon früh werden Menschen so geistig korsettiert – natürlich für einen höheren Zweck: „politisch korrekt“, bereinigt um störende Einflüsse, feinsäuberlich gegendert.

Wirklich „frei“ ist ein Spiel dann aber nicht mehr – sofern die Kinder überhaupt noch Zeit dazu haben. Denn Langeweile wird, wo es geht, in unserer Gesellschaft vermieden und damit vermeidet man leider auch jede tiefere geistige Auseinandersetzung. Das bekommt auf Dauer der menschlichen Seele nicht gut. Das bekommt gerade auch der Kunst nicht gut. Und wer glaubt, dass KI-Werke Kunst sind, der hat nicht wirklich begriffen, was Kunst oder andere geistig-leibliche Akte sind. Sie sind höchstens Kunst-Simulationen, ansonsten perfekt getrimmte, digital wahr gewordene Gesellschaftsideale: Konventionen.

Das Verschwinden der Kindheit

Michael Ende hat die Folgen einer perfekt durchgetakteten Gesellschaft schon vor vielen Jahrzehnten in seinem berühmten „Kinderbuch“ Momo aufgezeigt: Wo Menschen zu sehr auf Perfektion getrimmt werden, da geht das Menschliche am Menschsein verloren, da verliert das Leben seine eigentliche Mitte, sein Herz.

„Denn Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen. Und je mehr die Menschen daran sparten, desto weniger hatten sie“ – Michael Ende, Momo

Leider muss man konstatieren, dass Michael Endes Horrorvision einer übersteigerten Konsumgesellschaft noch optimistisch war. Denn bei Ende müssen die „Grauen Herren“ ihre Pläne noch alle von Hand umsetzen, gibt es noch keine automatisierten „Social Media“, keine „Influencer“ – die „grauen Herren“ in Momo kommen nicht modisch daher, sondern unsympathisch. Die modernen Zeitdiebe des 21. Jahrhunderts sind dagegen scheinbar wahr gewordene Menschheitsträume. Scheinbar – in Wirklichkeit sind sie nur Simulationen davon. Denn Träume können außerhalb eines menschlichen Herzens nicht wahr werden, weil sie nur dort entstehen und existieren können. Dazu aber braucht es Zeit.

„Und alle Zeit, die nicht mit dem Herzen wahrgenommen wird, ist so verloren wie die Farben des Regenbogens für einen Blinden oder das Lied eines Vogels für einen Tauben.“ – Michael Ende, Momo

Ob etwas Herz und Sinn hat, ist übrigens keine Frage von Analogie oder Digitalität: Es gibt auch wundervolle digitale Spiele, man kann mit digitalen Mitteln wundervolle Werke vollbringen – allerdings nur, wenn man dazu auch (noch) geistig in der Lage ist.

Dazu müsste man aber unseren Kindern und Jugendlichen zugestehen, dass sie mehr zweckfrei spielen dürfen. Zweckfrei bedeutet allerdings, dass es keine messbaren Kompetenzen gäbe oder Zielprodukte, dass sie dabei auch Phasen der Langeweile erleben dürfen.

Das passt so gar nicht zu unserer durchgetrimmten Gesellschaftsideologie, wo auch nur die Pädagogik verlässliche Konsumenten und Fachkräfte erzeugen soll.

Über Martin Dühning 1500 Artikel
Martin Dühning, geb. 1975, studierte Germanistik, kath. Theologie und Geschichte in Freiburg im Breisgau sowie Informatik in Konstanz, arbeitet als Lehrkraft am Hochrhein-Gymnasium in Waldshut und ist Gründer, Herausgeber und Chefredakteur von Anastratin.de.