Halbgötterei

Der ideale Lehrer ist hünenhaft männlich, von archaisch großer und vollendeter Gestalt, eine charismatische Autorität, vollkommen von sich selbst überzeugt und hat ein schlechtes Gedächtnis. Durch seine überwältigende Männlichkeit bügelt er alle Widerstände unbesonnen nieder, ohne sich über mögliche Folgen Gedanken machen zu müssen – denn er weiß: Alles was er tut ist gut und richtig und könnte nicht besser sein. Fehler macht er nicht, und falls es so sein sollte, hat er sie längst schon vergessen, da er ein Gedächtnis hat wie ein Sieb.

Daher sieht man ihm auch alles nach. Nur die Namen und Listendaten der Schüler kann er auch noch Jahrzehnte später problemlos herunterspulen, auch wenn er längst schon vergessen hat, was für Menschen das waren, welche die Namen trugen. Alles das ist Schall und Rauch, wie sollte es auch anders sein.

So bewältigt er seinen Schulalltag und übersieht alle unnützen oder völlig widersinnigen Unmöglichkeiten, im Wissen darüber, dass er das Zentrum des Universums ist und die Schüler seine hilflosen und dummen Schützlinge. Freilich ist er in der Lage, jederzeit das Gefühl zu vermitteln, dass er ganz bei der Sache ist, denn es gibt nur die eine Sache und die ganze Welt ist für ihn ein Schulbuch, dass es erst noch zu schreiben gilt. Er ist der einzige Autor, ein Erschaffer, Weltgestalter, Schöpfer, Halbgott.

Der Halbgott, halb Mensch, halb Monster, aus der Antike hat er überlebt im deutschen Schulwesen. Obwohl durch die moderne Heldenkritik längst als Mythos widerlegt, ist er immer noch Ideal im Kopf der Schüler, Eltern und auch der Lehrer und Schulleitungen. Da wimmelt es dann noch von Heraklen, Minotauren, Sphinxen und anderen mythischen Wesen, die sich immer wieder neu in jungen und unerfahrenen Lehrkräften inkarnieren, die dumm genug sind, nur die Hälfte des Sagenstoffes zu lesen – den Aufstieg des Helden – und dabei völlig übersehen, dass noch jeder antike Held, sei er griechisch, römisch oder nordisch, ein jähes und wenig erquickliches Ende fand.

Sei’s drum: Das Ideal ist und bleibt der griechische Halbgott: schön, willenstark und doch irgendwie bestaunenswert einfältig. Viel Energie schöpfend in ewig-schwangere Projekte, die nicht sinnvoller sind als die Kraftakte eines Sisyphos. Je mehr Kraft dabei zum Einsatz kommt, desto größer jedoch fällt der Applaus aus. So funktionieren die landläufigen Beförderungsmechanismen und auch die Referendarsausbildung ist noch weitgehend auf unterrichtliche Heldentaten abgestimmt. Die göttlichen Wirrungen der Bildungspolitik können den dumpfen, selbstbewussten Kämpfer nicht aus seinem sicheren Schritt bringen. Doch leider, so lehren uns die Mythen, sind Halbgötter weder ewig jung noch unsterblich und das antike Schicksal kennt keine Gnade. Und so brennen sie dann regelmäßig und leider oft völlig unnötigerweise nach wenigen Jahren nieder, die einstmals gefeierten Helden, und niemand nimmt davon Kenntnis. Und wenn er es denn täte, so würde man es gleich wieder vergessen. Denn die flüchtige Schülerschaft verrinnt nach wenigen Jahren und die restlichen guten Lehrer haben ja ein schlechtes Gedächtnis.

Nur die schlechten und schwachen Lehrkräfte – also die, die in der Regel auf Dauer im System überleben, aber nicht über archaische Kräfte verfügen, die eben „bloß“ einfache Menschen sind, daher nicht gehört werden und wenig Ansehen besitzen, wundern sich und bestaunen oft schauervoll die heldenhafte, in ewig mythischem Kreislauf sich wiederholende Tragik.

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Martin Dühning, geb. 1975, studierte Germanistik, kath. Theologie und Geschichte in Freiburg im Breisgau sowie Informatik in Konstanz, arbeitet als Lehrkraft am Hochrhein-Gymnasium in Waldshut und ist Gründer, Herausgeber und Chefredakteur von Anastratin.de.