Briefe sind sinnliches Papier

Die romantischen und allgemein die literarischen Qualitäten von papiernen Briefen werden heutezutage weithin unterschätzt. Was früher üblich, nicht einmal etwas besonderes war: Dass man eigens und mit eigener Hand seine eigenen Gedanken zu Papier brachte, das Papier, eventuell mit Beigaben, sorgsam in einen Umschlag faltete, frankierte und selbst zu einem Briefkasten brachte, ist eine seltene Erfahrung geworden.

Heute bringt der Briefträger, wenn er überhaupt noch kommt, nur noch Rechnungen als Briefe; oder ungefordert Werbesendungen: Post, die keiner haben will. Früher gab es vormittags die Hoffnung, ob nicht die Antwort auf den Brief, den man unlängst schrieb, dabei wäre und nur in manchen Fällen nachmittags oder abends die Erfüllung.

Freilich geht heute alles so scheinbar viel einfacher und schneller. Eine SMV ist fast genauso schnell verfasst wie elektronisches Getwittere, oder die neuesten Gedankensprünge auf virtuellen Pinnwänden. Man postet einfach alles. Was dabei allerdings verloren geht, ist oft das Eigentliche. Denn nicht die Gedanken sind eigen, sondern die Person, die sie materialisiert. Und so sind diverse Netzwerkbotschaften so seltsam zeitlos, unverortet, ähnlich und meist ziemlich gleich-gültig. Belanglosigkeiten, die zwar ernst gemeint waren, kaum aber persönliche Form angenommen haben. Was folgt, ist der Versuch, durch Masse auszugleichen, was die Geschwindigkeit allein nicht zu bringen vermag. Und so muss es ALLES sein, was man in die Welt setzt, und sofort: Von tieferen Gefühlsregungen, deren Sinn verschwimmt an der Oberfläche, bis zur letzten Belanglosigkeit oder, wenn sonst gar nichts mehr hilft, derben Zoten.

Kommt ein Vöglein geflogen - brachte es früher manchmal ganz langsam noch einen lieben Brief...

Wie anders funktionierten die alten, schwerfälligen Briefe, als allein schon die eigene Handschrift, mühsam hingekritzelt oder sorgsam auf das Blatt gemalt, einen Brief so innig individuell machte, als man womöglich zwischen verschiedenen Stilen von Briefpapieren wählte wie heute nur noch beim Shopping Kleidungsstücke in einer Boutique, und als man vor allem auch noch abwägen musste, was man überhaupt schrieb, da das ganze Vorhaben des Briefeschreibens insgesamt doch recht langwierig vonstatten ging und man ja doch immer so recht lange auf eine Antwort warten musste.

Ja, man musste auch abwägen, wieviel man überhaupt schrieb und wie tief, denn schrieb man zu wenig oder oberflächlich, kam keine Antwort zurück, und schrieb man zuviel oder zu tiefsinnig, kam auch keine oder vieles blieb unbeantwortet. Der gelungene Privatbrief durfte somit weder Plakat noch Traktat sein, er musste Poesie sein. Nicht zuletzt haftete den Briefen damit immer etwas Poetisches, ja teils etwas unglaublich Sinnliches an. Denn übermittelte Gefühle, selbst aus vergangenen Zeiten, blieben in ihnen individuell spürbar und manifest, selbst wenn die Zeiten sich längst gewandelt hatten und alles anders wurde. Briefe konnten sowohl Liebesgedichte wie auch Denkmäler tiefer Freundschaft sein und bleiben.

Wie anders ist es doch heute, wo man meint, durch Masse, Technik und Geschwindigkeit wett zu machen, was an Eigentlichem und Dauer sonst längst nicht mehr vorhanden ist. Wir sind uneigentlich geworden und zeitlos – und damit beliebig ersetzbar. Maschinelles Feuerwerk und Funkensturm haben den sanft geschlagenen Marmor, und in Wirklichkeit auch den Künstler selbst, längst ersetzt.

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Martin Dühning, geb. 1975, studierte Germanistik, kath. Theologie und Geschichte in Freiburg im Breisgau, arbeitet am Hochrhein-Gymnasium in Waldshut und ist Gründer, Herausgeber und Chefredakteur von Anastratin.de.