Und Schweigen liegt über dem Walde…

Was macht man nur, wenn einem so recht gar nichts einfallen will, was sich zu schreiben lohnte, oder wenn man zwar schon einiges zu sagen wüsste, aber die Worte einem ausgegangen sind?

Man kann verzweifeln oder damit leben oder aber man gehört zu diesen völlig anachronistischen Personen, die eines dieser völlig anachronistischen Tagebücher führen, in welches sie zumindest in früheren Zeiten anachronistisch fleißig reingeschrieben haben. Und wenn man nur lange genug zurückblättert, findet man vielleicht auch etwas passendes, was schon in Worte gegossen wurde, wie den folgenden Eintrag vom 13. September 1998. Wenngleich die Jahreszeit auch nicht ganz passt. Aber der nächste Herbst kommt ja bestimmt…

Und Schweigen liegt über dem Walde (13.09.1998)

Ich hatte mir längst vorgenommen, einfach nicht mehr zurück zu blicken. Ich hatte mir vorgenommen, mit gutem Vorsatz, bestem Willen, versehen auch mit der notwendigen Leichtfertigkeit und auf dem oberflächlich-trivialen Niveau, das dazu nötig ist, müßig durchs Leben zu trampeln, nicht mehr nach rechts oder nach links zu blicken, aber auf gar keinen Fall jedenfalls zurück, und in der Zukunft meines heillosen Lebens mein Glück zu suchen. Nun endlich wollte ich es den anderen gleich tun einfach „spaßig“ zu sein.

Das Leben ist nämlich ein Spaß, bloß ein einziger großer Spaß, und zwar von morgens bis abends und erst recht in der Nacht. Es gibt auch kein Leid irgendwo, nein, kein Unrecht oder sinnlose Gewalt in der Welt: Es gibt nämlich überhaupt nicht irgend etwas Objektives; wir trampeln hier allein über uns selbst, von morgens bis abends und erst recht in der Nacht – immerzu, und weiter, und nur aus einem Grunde: Damit wir nämlich Spaß haben.

Der Spaß darf keineswegs angezweifelt werden.

Der Spaß ist die Hauptsache.

Der Spaß, der sind wir.

Und was uns dabei im Weg ist, ist aus demselben zu räumen. Das ist unsere Lebensaufgabe, der Sinn. Verstanden? He?!

Die Hauptsache unseres Lebens ist also, dass wir unseren Spaß haben, alles andere kann uns S…-egal sein. Die Borniertheit dieser und ähnlicher Gedankengänge hat mich schon immer angeekelt. Sie laufen meines Erachtens immer darauf hinaus, sich den Spaß, das Glück, das Recht, oder wie sich der persönliche Egoismus halt‘ sonst grade nennt, zu verklären und zu verherrlichen; und zwar dermaßen, dass man sich seinen Spaß dann eben letztlich mit Gewalt holt – denn diese überzogenen und überfrachteten Begriffsgötzen fressen sich lediglich – aber permanent – durch unsere Gehirnwindungen, wo sie dann derlei Wahnvorstellungen hervorrufen, dass wir ihnen unser Leben lang nachirren. In Wahrheit gibt es sie aber gar nicht; was es aber in Wahrheit nicht gibt, kann man auch nicht „verwirklichen“.

„Eh, Martin(?!) …“ – Pardon – ich vergaß – es gibt ja auch gar keine Wahrheit! Was gibt es dann dann wohl überhaupt? Wohl nur unsere Verbohrtheit; Grund genug, mit dieser prahlend durch die nicht vorhandene Gegend zu stampfen, und sich munter drauf los trümmernd brutal seine Rechte, sein Glück und seinen Vorteil anzueignen. Nein, das kann ja niemandem schaden. Denn, haha, die anderen gibt es ja auch nicht!!!

„Soso, dass ist also DEINE MEINUNG“

Mag sein, dass es meine ist, aber ist sie ebendarum falsch?

„Ja, denn DU EXISTIERT AUCH NICHT.“

… wohltuend das zu wissen, dann kann ich wenigstens nichts falsch machen.

„Du irrst, denn WAS NICHT ICH IST, KANN NIEMALS WIRKLICH SEIN, IST ALSO IMMER LÜGE.“

Nachdem ich auf diese und ähnliche weise wieder einmal einen sinnlosen Kampf mit meinen nicht vorhandenen Phantasieprodukten geführt hatte, beschloss ich, durch einen dieser inexistenten Wälder zu schreiten, um meine Gedanken etwas am Herbstlaub zu kühlen. „Hauptsache in die Zukunft blicken, nur nicht daran denken, was gestern war“, dachte ich.

Es ist furchtbar, keine Vergangenheit und dennoch ein so gutes Situationsgedächtnis zu haben. Es beschert einem nur Kummer über verlorene Freundschaften, all die verpassten Gelegenheiten, unglücklichen Fügungen und Wendungen, gegen die man sich mit aller Kraft stemmte, aber vergebens. Immer wieder wiederholen sie sich auch später in der Erinnerung, wie das Programm im Fernsehen… Da nützt einem also auch die beste Phantasie nichts, oder der irre Versuch, durch einen eigentlich nicht vorhandenen Wald zu gehen, und sich mit Reizen zu überfluten, um das Vergangene darin zu ertränken. Schließlich kommt es dann doch wieder hoch, in veränderter Form, Nachts oder Tags, in hinterhältigen Träumen, aber auch in einsamen oder ungeschickten Gedankengängen. Aber auch in jedem Moment in einem fremden Gesicht, einem Leuchten, oder hinter einem dieser farben-scheinigen Bäume. Da ein verräterischer Schatten – dort noch einer. Dieses Eichhörnchen sieht aber irgendwie aus wie…

Und bei jedem Telefon, an dem man zuhause vorbeikommt (meist ist es ein und dasselbe), hofft man doch, es könnte gleich klingeln, und der liebe Gott ist dran und alles wird wieder gut…

… was aber leider nicht geht, weil es sowieso nichts gibt außer einem selbst und dem Spaß, den man zwanghaft haben muss. Ach, das haben wir nun von diesem S…-Individualismus!!!

Was bringt’s mir also, hier im Walde herumzuwandeln, alles in Ruhe zu betrachten und sinnlose eigene Gedanken zu machen? Was denn? Besser wäre es vielleicht doch, sich mit irgendwas vollzuschütten, seine Hirnzellen auszuradieren. Das Vakuum, das dadurch entsteht, könnte man dann, mangels vorhandener Intelligenz, für Spaß halten, für Glück, oder für sonst was… Jeder hat sein Recht, blöde zu sein!!! Lasst uns eine Schere nehmen und in unseren Schädel rammen, die trübseligen Gedanken heraus zu schneiden. Was macht es, wenn wir dabei unser bißchen Verstand verlieren, unsere Erinnerung oder unser Lebensblut? Vielleicht macht es Spaß, und das ist doch wohl die Hauptsache!

Ich denke, also bin ich hier falsch, in dieser Welt, in diesem Wald. Wo es nur still ist. Wo es schweigt. Wo keine Scheren sind. Keine Drogen. Nur Ruhe. Verdammte Stillte. Einsamkeit?

Dennoch spaziere ich gerne so durch die Gegend, im vollem Bewusstsein, dass es schon Herbst ist, und nur noch kälter wird, nicht mehr wärmer. Wo alles abgeerntet ist. Mit der Erinnerung an einen verfehlten Frühling und einen ganz verregneten Sommer. Aber hier gibt es immer noch viel zu entdeckten, hinter jedem Baum. „Spaßig?“ – nicht unbedingt, aber vielleicht interessant – und vielleicht treffe ich dort auch noch mal ein paar dieser legendären Elben, Hutzelweiber oder Zwerglein, oder Kobolde, all diese Scherzbolde. Das sag ich Euch dann aber lieber nicht…

Was aber noch wertvoller ist: Hier ist dann, im Winter, ein Raum voll Schweigen, Ruhe, Gelassenheit, die Zeit und Möglichkeit zum Nachdenken gibt. Etwas, was andere, die sich lieber vorzeitig den Kopf und das Hirn geschoren haben, nie finden werden.

Über Martin Dühning 1437 Artikel
Martin Dühning, geb. 1975, studierte Germanistik, kath. Theologie und Geschichte in Freiburg im Breisgau, arbeitet am Hochrhein-Gymnasium in Waldshut und ist Gründer, Herausgeber und Chefredakteur von Anastratin.de.