Vom rechten Maß und der Mäßigkeit

Balance (Foto: Sebastian Voortman via Pexels)
Balance (Foto: Sebastian Voortman via Pexels)

Neben dem vielumjubelten Utilitarismus für Glückseiferer ist auch die Tugendethik wieder in Mode gekommen. Eine Tugend wird dabei aber meist vergessen – ganz zu Unrecht, denn sie wäre wichtig…

Das späte 20. und auch die erste Hälfte des 21. Jahrhundert gehörte den Hedonisten und Glückssuchern. Ihnen verdanken wir einiges an persönlich-individueller Freiheit, das Internet, die Shopping- und Wellness-Kultur und auch die nahende Umweltkatastrophe (die sich teils daraus ergibt). Denn wer nur nach seinem eigenen Glück sucht, wird das der anderen schwerlich finden und kaum zu einem Segen für die Welt außerhalb seiner selbst. Individualismus muss allerdings nicht immer nur egoistisch sein, auch die Tugendethik setzt beim Einzelnen an, bindet ihn allerdings über Verantwortung an die Gesellschaft zurück. Ich würde mir wünschen, dass eine neue Verantwortlichkeit dann die Ethik der zweiten Hälfte des 21. Jahrhundert prägen würde. Ohne wird es schwerlich gelingen, den Herausforderungen der nahenden Zukunft konstruktiv zu begegnen.

Die Tugendethik scheint mir ansich schon wesentlich verantwortlicher zu sein als bloßer Hedonismus. Dennoch geht auch sie fehl, wenn sie Tugenden als Mittel zum Zweck ansieht (und der Zweck ist dann doch oft wieder der persönliche Vorteil – und sei es in seiner kaschierten Form, der Ehrbarkeit), denn dann kommt es fast immer notwendigerweise dazu, dass man die Sache übertreibt. Das allerdings, besonders in seinen Ausformungen Fanatismus und Fundamentalismus, richtet dann weitaus mehr Schaden an als bloßer Egoismus. Deshalb ist es ganz wichtig, dass man eine besondere Tugend bei allem nicht vergisst – und damit meine ich diesmal nicht die Wahrhaftigkeit, die auch oft vergessen wird, was dann zu Frömmelei und Heuchlerei führt. Nein, ich meine die Mäßigkeit.

Mäßigkeit hatte im 20. Jahrhundert einen ganz schlechten Ruf, spätestens, als der Kampfbegriff von einer Gesellschaft der Mittelmäßigen aufkam. Freilich kann man nicht zum Heroen anschwellen, wenn man Mäßigkeit als Richtwert hat – dennoch ist keine Einzeltugend tugendhaft, wenn sie maßlos wird – darauf hat schon Aristoteles in seiner nikomachischen Ethik hingewiesen. Im Danzig der Jahre um 1630 schrieb der Barockgelehrte Johannes Plavius seine „Lehr-Sonnette“, die er in einer damals sehr ungewöhnlichen Verbindung von Protestantismus, Tugendethik und niederländisch-italienisch inspirierter Sonettengedichtkunst als eines seiner letzten Werke veröffentlichte, bevor er aus der Geschichte verschwand. Die genaue Mitte seines Werkes bilden die beiden Sonette „Deut alles zum Besten“ und „Halt Maße“. Letzeres liest sich wie folgt:

50. Halt maasse.

Maass’ ist der tugend ziel / wer das wil vberschreiten /
Der thut nicht / was er sol / er ist der tugend feind /
Er sol nicht / was er thut / vnd ist der laster freund /
Zu wenig vnd zuviel steht tugend an der seiten.
Wer nu der laster heer wil ritterlich bestreiten
Der thu nicht alle das / was recht zu seyn nur scheint /
Er halte mittelmaass’ vnd wer zu stehn vermeint /
Dem sey die maass’ ein stab / so wird er nimmer gleiten.
Maass’ ist der tugend seel’ / vnd auch der tugend mutter /
Maass’ ist die tugend selbst / maass’ ist der tugend futter /
Maass’ irret nimmermehr sie thut auch was sie thut.
Darumb wer maasse liebt / der liebet auch die tugend /
Maass’ ist der alten sporn / maass’ ist der zaum der jugend /
Maass’ ist der ehren steig’ / maass’ ist zu allem gut.

Zitiert nach: Johannes Plavius, Lehrsonette

Mäßigkeit, stellt das Sonett fest, ist das eigentliche Ziel eines tugendhaften Lebens. Sofern man dies ignoriert und deren Grenzen überschreitet, wird man dem ethischen Sollen nicht mehr gerecht, ja man wird sogar zu einem Feind der Tugenden und einem Freund der Laster, weil maßloser Werteeifer sämtliche Tugenden fehl gehen lässt (Z. 1-4). Damit man den Lasterhaftigkeiten standhalten kann, in einer „ritterlichen“ Weise, darf man sich nicht moralischer Scheinhaftigkeit hingeben, wozu es nötig ist, die richtige Mitte zu finden (was die ursprüngliche Bedeutung von „Mittelmaß“ ist). Heute würde man, da wir einengende Maßeinheiten scheuen, wohl eher das Bild des Balance-Haltens benutzen. In beiden Fällen geht es aber um ein Gleichgewicht der Kräfte.

Daraufhin folgt im Sonett ein Lobpreis auf die zahlreichen Vorzüge von echter Mäßigkeit: Mäßigkeit ist eine Stütze aufrechter Haltung, sie ist die den Tugenden innewohnende Seele und zugleich ihr mütterlicher Ursprung, insofern Inbegriff der Tugendhaftigkeit und auch das, woraus sich alle anderen Tugenden nähren. In Vorwegnahme der Gewissensethik späterer Jahrhunderte weist Plavius ihr dann sogar schließlich Unfehlbarkeit zu (Mäßigkeit kann sich niemals irren, egal was sie tut).

Als Fazit wird dann festgestellt, dass ein Freund von echter Mäßigkeit auch alle anderen Tugenden lieben wird – sowohl im Alter, wo sie anspornt als auch in der Jugend, wo sie quasi eine Art Zaumzeug ist. Im letzten Vers wird die Mäßigkeit dann nochmals als Aufstiegshilfe zur Ehre (als der höchten ritterlichen Tugend) angespriesen und festgestellt, dass sie somit zu allem gut ist.

Einen solchen Lobpreis auf eine Tugend, die eben, weil sie mäßigt, auch extreme Leistungen verhindert, hört man selten – schon gar nicht heute, wo das Extrem ja geradezu Voraussetzung von jeder Art von gesellschaftlichem Lobspruch ist, aber auch sicher nicht in der Danziger Bürgergesellschaft in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. So wundert man sich dann auch nicht, dass es Johannes Plavius auch nie auf das oberste Siegertreppchen des literarischen Olymp geschafft hat, der wohl damals wie heute jenen vorbehalten bleibt, die ins Extrem gehen. Da hat es dem Danziger Gelehrtendichter auch nicht geholfen, dass er, nicht nur inhaltlich, sondern auch, was seine lyrischen Formen angeht, seiner Zeit wohl um ein halbes Jahrhundert voraus war – und was seine literarische Intertextualität angeht, in einer ganz anderen, europäischen Liga spielt als seine deutschtümelnden Kollegen. Und dass der NS-Bewunderer Heinz Kindermann Plavius in den 1930ern dann später faschistisch instrumentalisierte, hat dem Barockhumanisten sicher auch nicht gut getan. Von dieser Besudelung hat sich Plavius noch heute nicht ganz erholt.

Ach, hätte man seinen Rat doch nur befolgt: Mäßigkeit wäre auch geschichtlich eine weit bessere Wahl gewesen, als die Nibelungentreue, die alles ins Extrem trieb und damit viel Gutes mit in den Abgrund gerissen hat…

Über Martin Dühning 1438 Artikel
Martin Dühning, geb. 1975, studierte Germanistik, kath. Theologie und Geschichte in Freiburg im Breisgau, arbeitet am Hochrhein-Gymnasium in Waldshut und ist Gründer, Herausgeber und Chefredakteur von Anastratin.de.