Zeitreisen

Die Taschenuhr: Heute mag sie für Romantik stehen, doch mit ihr entstand in der frühen Neuzeit unser heutiges, quantitatives Zeitverständnis. Freilich, im Vergleich mit Atomuhren machen Taschenuhren einen sehr gemächlichen Eindruck. Doch ihr Tick-tack bleibt symptomatisch. (Foto: Martin Dühning)
Die Taschenuhr: Heute mag sie für Romantik stehen, doch mit ihr entstand in der frühen Neuzeit unser heutiges, quantitatives Zeitverständnis. Freilich, im Vergleich mit Atomuhren machen Taschenuhren einen sehr gemächlichen Eindruck. Doch ihr Tick-tack bleibt symptomatisch. (Foto: Martin Dühning)

Der Sprache, jenem unerschöpflichen Wissensspeicher, wohnt so manche Wahrheit inne, die größer ist als der Intellekt des Einzelnen, der Primat der Rechenkünstler – dies trifft auch auf das größte Geheimnis des Kosmos zu: auf die Zeit.

Seit wir wissen, dass sie relativ ist und krümmbar, die Zeit, wurden mancherlei logische Überlegungen angestellt darüber, welche hypothetischen Folgen dies haben könnte und eine in der Populärkultur besonders beliebte Spielart davon sind Zeitreisen und die kausalen Paradoxien, die sich daraus ergeben, sei es das Großvater- oder das Bootstrap-Paradoxon.

Was Science-Fiction-Autoren erfreut, ist für manchen naturwissenschaftlichen Logiker ein Graus. Manch ein Theoretiker war schließlich gar der Ansicht, dass so etwas wie Zeitreisen, weil sie logisch betrachtet einfach unverschämt sind, sich nicht gehört, dass es diese kausalen Widersprüchlichkeiten gar nicht geben dürfe, könne, weil das Universum, was ja doch irgendwie so etwas wie eine höhere Ordentlichkeit, eine Weltformel oder einen Plan haben müsse, sich gegen so etwas wie Zeitumschreibungen und daraus entstehende Doppeldeutigkeiten versichern müsse. Wenn nicht, bleibt letztlich nur die Viele-Welten-Theorie, um die Ordnung zu retten.

Kurzum, das geht letztlich an der ganzen Sache vorbei; die Sprache, zumindest die Deutsche, ist da schon lange viel klüger: Denn sie kennt vor allem Modi, nicht fixe Tempora – Letztlich gibt es vor allem die reale Gegenwart und Abstufungen der Wahrscheinlichkeit davon, synchron in Form von Konjunktivierungen, diachron mittels dem, was Lateiner als Zeitstufen ins Deutsche hinein gedeutet haben, letztlich aber gibt es Präsens und Modalkonstruktionen, sieht man vom Präteritum mal ab, was aber eben kein Imperfekt ist, sondern letztlich auch eine Ausdrucksform einer vom Präsens zu unterscheidenden Möglichkeitsebene.

Dass Futur ja nur eine mentale Konstruktion ist, ein Ausdruck von (Zukunfts-)Möglichkeiten, das kennen auch viele andere Sprachen, ist selbst unreflektierten Muttersprachlern oft bewusst, doch letztlich ist auch die Vergangenheit ebenfalls ein Konstrukt und somit muss man sich auch keinerlei Gedanken darum machen, ob die Vergangenheit durch etwaige Zeitreisen umgeschrieben werden könnte, weil es sie als Realität letztlich gar nicht gibt, außer, indem wir sie uns vergegenwärtigen, was letztlich nichts anderes bedeutet, als dass wir sie in der Gegenwart mental konstruieren, und zwar jedesmal neu!

Das ist die wahre Geschichts-Schreibung.  Das klingt beliebig, ist aber auch gewissen Reglementierungen unterworfen, um nicht zur reinen Fiktion zu werden, was auch sprachlich ein anderer Modus wäre. Inwiefern unser Geschichtsbild zutreffend ist, also Indikativ und nicht Konjunktiv, ist keine Frage einer linearen physikalischen Abfolge, sondern ermisst sich daraus, inwiefern unsere Geschichtskonstruktionen zu der existierenden Gegenwart passen. Relikte aus vergangenen Zeiten, das, was der Historiker Quellen nennt, helfen zur Überprüfung. Quellen selbst sind aber keine Vergangenheit, sondern existierende Objekte oder Sachverhalte in unserer Gegenwart! Sie sind Objekte unserer Deutung, missversteht man sie, wird Geschichtsschreibung zur Geschichtsklitterung, vernichtet man sie, löscht man noch nicht die Vergangenheit als Geschichte aus, wohl aber ihre vernünftige Vergegenwärtigung. Aus Historie wird dann Legende oder Mythos.

Falsch ist lediglich jede Form von Geschichts-Schreibung, die einem Vergleich mit gegenwärtigen Zuständen nicht standhält, die aktuellen Fakten widerspricht. Das lässt aber viel Raum für Interpretationen und diese Interpretationen müssen wir wohl oder übel als unterschiedliche, existierende Vergangenheiten nebeneinander akzeptieren. Das passt nicht zum deterministischen, kausallogischen Weltbild, ist aber als Erkenntnis in der Sprache deutlich vorgebildet und zudem wesentlich älter als das aktuelle Weltbild: Zeit als chronologisches, messbares Kontinuum, eine feststehende Ereigniskette, das ist letztlich eine aus dem Medium Schriftlichkeit abgeleitete Fiktion der frühen Neuzeit, als man begann, das Leben mithilfe von Uhren in handliche, normierte Kapitelchen einzuteilen, als man zur Auffassung kam, unser Erleben sei wie ein fixes Logbuch, indem die Ereignisse für immer festgelegt sind und nicht mehr änderbar. Quantifierbare Zeit entsprang einer menschlichen Allmachtsphantasie: Als man hoffte, durch genaue Erkenntnis der Ereignisfäden im kosmischen Geflecht alle Kräfte rückstandslos erklären und vorhersagen zu können. Das wahre Leben ist aber kein Teppich oder Logbuch, und wäre es ein Text, dann hätte es nur eine einzige Seite, die, die gerade aufgeschlagen ist – das Hier und Jetzt. Alles andere muss gedankliche Spekulation bleiben, die von der Objektrealität zu unterscheiden ist.

Bezüglich von Zeitreisen wäre also nicht die Frage, ob Zeit umgeschrieben werden kann, denn sie existiert ja nur in Form von mentalen Prozessen, permanenten Les-und Schreibarten; Vergangenheit wird von uns ständig neu geschrieben! Der eigentliche Knackpunkt wäre, ob die Annahme einer physikalischen Veränderung einer möglichen vergangenen Gegenwart zu unserer realen Jetzwelt passt. Ich kann mir nicht vorstellen, wie das, sollte man tatsächlich in vergangene Gegenwarten vordringen können, nicht der Fall sein würde, denn das Hier und jetzt, das Präsens, ist wie es ist – alles andere sind nur Möglichkeiten. Und derer kann es viele geben, wie sich ein Baumstamm nicht nur in seine vielen Äste und Zweige nach oben verjüngt (Zukunft), sondern auch in seine Wurzeln hin als Wurzelgeflecht (Vergangenheit): Beides können wir in unserer Beschränktheit nicht ganz ergründen, wir kennen nur die Hauptverzweigungen, die aber auch oft verdeckt sind. Wie sie aber ganz exakt verlaufen, die möglichen Verästelungen, ist unbestimmbar und letztlich egal, Hauptsache, sie münden in unsere erfahrbare Gegenwart, ins Präsens. Auf diese unsere Gegenwart kommt es eigentlich immer zuerst an. Und dass wir schon bei der Realisierung unserer Gegenwart noch genug Unschärfen haben, zeigt nicht zuletzt Heisenberg oder Schrödingers Katze.

Über Martin Dühning 1420 Artikel
Martin Dühning, geb. 1975, studierte Germanistik, kath. Theologie und Geschichte in Freiburg im Breisgau, arbeitet am Hochrhein-Gymnasium in Waldshut und ist Gründer, Herausgeber und Chefredakteur von Anastratin.de.